Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Kinderlos reich

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Kinderlos reich
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Wahrscheinlich gibt es wenige Länder, die es auf mehr Pferdestärken pro Kopf bringen als die Schweiz. Im September 2009 verfügte ein Durchschnittsauto im Kanton Zürich über einen Hubraum von 2.072 cm3, 143 PS Motorleistung und ein Gewicht von 1’413 Kilogramm. Danach ging es zwar leicht bergab, wohl infolge der Finanzkrise. Doch mittlerweile dürften die Werte sogar wieder höher liegen. Das liegt sicherlich nicht daran, dass unsere anspruchsvolle Topographie mehr Motorleistung nötig macht. Nein, man gönnt sich einfach was und zeigt dies auch gern und zwar besonders dort, wo es alle sehen – auf der Strasse. Wahrscheinlich gibt es auch hierzulande viele, die das Auto – wie unseren nördlichen Nachbarn sprichwörtlich angedichtet – als ihr liebstes Kind bezeichnen. Und obwohl die Deutschen auf ihren Autobahnen noch so schnell fahren dürfen, wie sie wollen, bringen die es im Schnitt „nur“ auf 130 PS pro Kopf. Der Smart ist hierzulande zwar auch beliebt, aber fast jeder sechste Käufer erwarb im Jahre 2010 einen Audi, BMW, Mercedes oder Porsche. Dazu entschied sich jeder Vierte für ein allradgetriebenes Fahrzeug und dies nicht nur in den Bergkantonen, sondern auch im Unterland.  

Die Schweiz ist für die Hersteller von Luxus aller Art ein beliebter Testmarkt. Und wer sich mit Durchschnittswerten beschäftigt, wird in der Schweiz sehr oft im Superlativ fündig. Dass es uns gut geht oder sogar sehr gut, soll hier nicht bestritten werden. Bei allen globalen Vergleichen von Einkommen oder Vermögen rangiert die Schweiz ganz weit oben auf der Weltrangliste. Höchstens Luxemburg, Norwegen oder Katar erzielen ein höheres Pro-Kopf-Einkommen. Und die Verteilung der Einkommen ist vergleichsweise ausgewogener als anderswo. In Frankreich oder den Niederlanden sind die Einkommen, gemessen am sogenannten Gini-Koeffizienten sehr viel ungleicher verteilt, von Ländern wie China oder Brasilien und auch den USA ganz zu schweigen. Nur die Vermögen sind hierzulande stärker auf relativ wenige konzentriert als im Ausland. Deutschland etwa bringt es im Vergleich auf eine deutlich breitere Streuung der privaten Vermögen. Doch versperrt der Durchschnitt leider gern die Sicht auf Dinge, die man eigentlich nicht vermutet oder vielleicht gar nicht sehen möchte. Ganz gemäss der Weisheit: Man kann in durchschnittlich 30 cm tiefem Wasser ertrinken, wenn sich irgendwo inmitten dieses flachen Gewässers ein metertiefes Loch auftut. Dazu ein paar Fakten für unser Land.

Im Durchschnitt
Das durchschnittliche Bruttoeinkommen der schweizerischen Haushalte betrug im Schnitt der Jahre 2009-2011 CHF 9’565 pro Monat. Wem das viel erscheint, sollte berücksichtigen, dass ein Haushalt eine oder mehrere Personen umfassen kann, die zum jeweiligen Einkommen beitragen. Das Medianeinkommen betrug knapp 90% des Durchschnitteinkommens. Mit anderen Worten: deutlich mehr als die Hälfte der Haushalte verdiente weniger als das Durschnitteinkommen. Nach Abzug sämtlicher Ausgaben blieben den Haushalten gemäss einer Mitteilung des Bundesamtes für Statistik im Jahre 2011 etwas mehr als 1‘200 Franken übrig. Das sind immerhin deutlich mehr als 12% des durchschnittlichen Bruttoeinkommens, was mitunter die im internationalen Vergleich ansehnlich hohe Sparquote der Schweiz erklärt.

Neben dem Durchschnitt
Was die Durchschnittswerte jedoch verschleiern ist die Tatsache, dass das unterste Quintil oder Einkommensfünftel der Haushalte gerade einmal 4’200 Franken monatlich verdiente, das zweitunterste knapp über 7‘000. Kein Wunder, dass diese 40% der Haushalte zu einem hohen Grad auf sogenannte Transfereinkommen angewiesen waren. Im ersten Quintil betrug der Anteil der Transfereinkommen 53.5%, im zweiten Quintil 32.6%. Transfereinkommen sind Renten, Sozialleistungen und sogenannte monetäre Überweisungen von anderen Haushalten (Stichwort Alimente), wobei die Renten den Hauptteil der Transfereinkommen ausmachen. Im ersten Quintil lag deren Anteil bei fast 63%, im zweiten bei 32.6%. Demnach sind es vor allem Rentnerinnen und Rentner, die knapp bei Kasse sind. Das mittlere Einkommen des obersten Einkommensfünftels betrug mit 16‘931 Franken fast das Vierfache des untersten Fünftels. Auch wenn das international verglichen nicht besonders ungleich ist, sind die Grössenordnungen doch eindrücklich, wenn nicht sogar etwas bedrückend. Denn auch die hohe Sparquote der Schweiz wird vor allem von den zwei obersten Quintilen gestemmt, die 15.4% (zweitoberstes Quintil) oder im Fall des obersten Einkommensfünftels gar 19.9% des Einkommen auf die hohe Kante legen können. Das unterste Einkommensfünftel kann überhaupt nicht sparen. Die Sparquote ist sogar negativ (-11.9%), denn allein für die Konsumausgaben gehen 85.8% des Einkommens drauf. Bei Einpersonenhaushalten des untersten Einkommensquintils verschlingen die Konsumausgaben 104.1% des Einkommens, bei Paarhaushalten desselben Quintils sind es 86.1%.

Alt und arm
Zweifellos lassen sich in der Schweiz auch Fälle von Working Poor finden, was einer so reichen Volkswirtschaft eigentlich nicht würdig ist. Das ist aber nicht das Gros der unterstützungsbedürftigen Haushalte. Viel verbreiteter ist „Armut“ bei den älteren Pensionierten-Haushalten. Besonders hart trifft es die Alleinstehenden und das sind wohl mehrheitlich Witwen. Das passt schon nicht ganz in das Bild, das wir von unserem Land haben. Wer sein Leben lang gearbeitet hat, sollte wenigstens einen Lebensabend verbringen dürfen, der frei von materiellen Ängsten und Entsagungen ist. Wenn wir das heute schon nicht schaffen, ist es höchste Zeit unser System zu überdenken. Angesichts dessen, dass sich unser Alterslastkoeffizient – das ist der Quotient aus Erwerbstätigen und Pensionierten – laufend verschlechtert und die geburtenstarken Jahrgänge bald einmal das Pensionsalter erreichen umso mehr. Bald geht die Rechnung schlichtweg nicht mehr auf. Länger zu arbeiten ist die eine Logik, denn unsere Lebenserwartung ist nun mal deutlich gestiegen. Das ist aber nur Symptombekämpfung. Der Kern der Lösung liegt in der Familienpolitik und unserem Gesellschaftsverständnis: unsere Fertilität ist zu tief und unsere Mortalität auch. Der wahre Reichtum einer hochentwickelten Gesellschaft wie der unseren ist immer weniger mit Geld zu messen. Nicht umsonst spricht man von Kinderreichtum.  (Raiffeisen/mc/ps)

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