Kunstmuseum Bern: Kirchner x Kirchner – Farbgewaltig, kraftvoll, wegweisend

Kunstmuseum Bern: Kirchner x Kirchner – Farbgewaltig, kraftvoll, wegweisend
Der sich in Deutschland befindende Teil des Werkpaares Alpsonntag: Ernst Ludwig Kirchner, Sonntag der Bergbauern, 1923-24/26, Öl auf Leinwand, 170 x 400 cm. (© Bundesrepublik Deutschland)

Bern – Vom 12. September 2025 bis zum 11. Januar 2026 zeigt das Kunstmuseum Bern die Ausstellung Kirchner x Kirchner. Sie präsentiert rund 65 hochkarätige, selten in der Schweiz gezeigte Werke von Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938). Der Künstler zählt zu den herausragendsten Protagonisten der Moderne. Das Kunstmuseum Bern erinnert mit dieser Ausstellung an die umfangsreichste Retrospektive zu Lebzeiten des Künstlers, die 1933 in der Kunsthalle Bern stattfand und die er selbst kuratierte. Kirchner x Kirchner stellt den Künstler erstmalig als Kurator seines eigenen Werks ins Zentrum und zeigt, wie er durch gezielte Gegenüberstellungen und Überarbeitungen mancher Werke seinen künstlerischen Lebenslauf interpretierte und inszenierte. Ein Highlight ist die Wiedervereinigung von Alpsonntag. Szene am Brunnen aus der Sammlung des Kunstmuseum Bern und seinem Pendant Sonntag der Bergbauern aus dem Deutschen Bundeskanzleramt.

Kirchner x Kirchner: Ein aussergewöhnlicher Blick auf den Expressionisten widmet das Kunstmuseum Bern dem deutschen Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) eine aussergewöhnliche Ausstellung. Im Zentrum steht die grosse Retrospektive von 1933 in der Kunsthalle Bern, die der Künstler selbst kuratierte. Ein damals seltenes Vorgehen, das heute neue Einblicke erlaubt.

Die Ausstellung zeigt, wie Kirchner durch gezielte Auswahl, Hängung und Überarbeitung seiner Werke nicht nur seinen künstlerischen Werdegang (neu) zu formen versuchte, sondern auch ein bewusst gestaltetes Raumerlebnis schuf. Rund 65 Werke aus allen Schaffensphasen – darunter zentrale Leihgaben aus bedeutenden nationalen und internationalen Sammlungen – geben Einblick in Kirchners Selbstinszenierung als Künstler und Gestalter.

Sensationelle Wiedervereinigung von Alpsonntag. Szene am Brunnen und Sonntag der Bergbauern aus dem Kabinettssaal des Deutschen Bundeskanzleramts
Ein zentrales Ereignis der Ausstellung Kirchner x Kirchner ist die erstmalige Wiedervereinigung des monumentalen Werkpaares Alpsonntag. Szene am Brunnen (1923–24 / um 1929, Kunstmuseum Bern) und Sonntag der Bergbauern (1923–24 / 1926, Kabinettssaal des Bundeskanzleramts, Berlin). Die beiden Gemälde eröffneten 1933 Kirchners Retrospektive in der Kunsthalle Bern, wo sie Seite an Seite präsentiert wurden. Mit diesen kraftvollen Bildern verlieh Kirchner seiner Vorstellung Ausdruck, wie Monumentalität und Raumgestaltung zusammenspielen können. Zugleich wollte er unter Beweis stellen, dass er in der Lage war, Werke von öffentlicher Strahlkraft zu schaffen – Werke, die über den Ausstellungsraum hinaus in den gesellschaftlichen Raum hineinwirken. Dies war ihm wohl besonders wichtig, da 1933 sein langjähriges Projekt zur Ausmalung des Festsaals im Museum Folkwang in Essen endgültig gescheitert war.

Obwohl als Pendants konzipiert, waren die beiden monumentalen Gemälde seit 1933 nie wieder gemeinsam zu sehen. Alpsonntag. Szene am Brunnen (Pressebild 02) wurde noch im selben Jahr direkt aus der Ausstellung vom Kunstmuseum Bern erworben. Ein symbolträchtiger Akt: Es war der erste und einzige Ankauf eines Gemäldes durch ein Schweizer Museum zu Lebzeiten des Künstlers. Sonntag der Bergbauern (Pressebild 01) gelangte zunächst als Leihgabe und 1985 schliesslich dauerhaft in die Bundeskunstsammlung der Bundesrepublik Deutschland. Dass das Deutsche Bundeskanzleramt die Ausleihe dieses im Kabinettssaal prominent und dauerhaft installierten Gemäldes ermöglicht, stellt eine ebenso seltene wie bedeutende Ausnahme dar.

Weitere Höhepunkte mit hochkarätigen Leihgaben
Zu den weiteren Höhepunkten der Ausstellung zählen Meisterwerke wie Strasse, Dresden (1908/1919)
(Pressebild 06) aus dem Museum of Modern Art, New York, Strasse mit roter Kokotte (1914/1925) (Pressebild 09) aus dem Museo Nacional Thyssen-Bornemisza in Madrid, Berglandschaft von Clavadel (1927) (Pressebild 12) aus dem Museum of Fine Arts in Boston, Farbentanz I Entwurf für Essen (Pressebild 14) aus dem Museum Folkwang Essen oder Esser (1930) (Pressebild 04) aus der Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern.

Ernst Ludwig Kirchner: Kuratieren als künstlerischer Akt
Die Ausstellung Kirchner x Kirchner zeigt, wie bewusst Ernst Ludwig Kirchner seine Rolle als Kurator verstand: 1933 organisierte er in enger Zusammenarbeit mit Max Huggler (1903–1994), damaliger Leiter der Kunsthalle Bern und späterer Direktor des Kunstmuseum Bern, die umfassendste Retrospektive seiner Karriere. Er bestimmte nicht nur die Werkauswahl und konzipierte die Hängung, sondern gestaltete auch das Ausstellungsplakat und den Katalog – unter dem Pseudonym Louis de Marsalle verfasste er sogar einen Begleittext. Dabei strukturierte Kirchner sein Œuvre gezielt, überarbeitete einzelne Werke und setzte den Ausstellungsraum als integralen Teil seiner künstlerischen Aussage ein. Wie sehr Kirchner die Ausstellung als künstlerischen Akt verstand, zeigt ein Brief an Max Huggler vom 21. Dezember 1932:

«Eine Ausstellung, farbig und formal richtig hängen ist dasselbe als wie ein Bild gestalten.»

Die Schau im Kunstmuseum Bern rückt diese kuratorische Perspektive erstmals ins Zentrum. Sie verfolgt dabei nicht das Ziel, die historische Retrospektive von 1933 originalgetreu nachzustellen, sondern beleuchtet deren Aufbau, Absichten und Wirkung aus heutiger Perspektive. Leitend ist die Frage, was es bedeutet, wenn ein Künstler seine eigene Geschichte schreibt – und warum Kirchner 1933 genau diese Form der Darstellung wählte. Welche Absichten verfolgte er? Und wie prägt diese gezielte Selbstinszenierung bis heute den Blick auf sein Werk?

«Die Retrospektive von 1933 war weit mehr als eine Ausstellung – sie war ein künstlerisches Manifest. In ihr verdichtete sich Kirchners Ringen um eine eigene Bildsprache ebenso wie sein Bedürfnis, sich künstlerisch neu zu verorten.»

Nadine Franci, Leiterin Graphische Sammlung im Kunstmuseum Bern und Kuratorin der Ausstellung

Indem Kirchner x Kirchner der etablierten kunsthistorischen Deutung Kirchners eigenen Blick auf sein Œuvre gegenüberstellt, eröffnet sie eine neue Lesart seines künstlerischen Selbstverständnisses – und macht zugleich seinen kuratorischen Gestaltungswillen sichtbar.

Historischer Kontext der Retrospektive von 1933
Die Ausstellung in der Kunsthalle Bern fand von März bis April 1933 statt – zu einem politisch wie persönlich entscheidenden Zeitpunkt für Kirchner. In Deutschland wurden seine Werke nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zunehmend diffamiert und aus den Museen entfernt. In der Schweiz, wo er seit 1917 lebte, bot sich ihm die Gelegenheit, seine Kunst umfassend zu präsentieren. Mit über 290 Arbeiten war die Retrospektive von 1933 die umfangreichste Ausstellung zu Lebzeiten des Künstlers. Viele Werke stammten aus seinem Besitz – doch Kirchner bestand darauf, auch Leihgaben aus öffentlichen und privaten Sammlungen einzubeziehen. So wollte er gezielt das Bild eines bereits etablierten Künstlers vermitteln.

«Ich würde die ganze Ausstellung ja leicht aus eigenen Beständen machen können, aber es sieht besser aus, wenn einiges aus öffentlichem oder Privatbesitz unverkäuflich dabei ist […].»

Ernst Ludwig Kirchner in einem Brief an Max Huggler, 20. November 1932

Kirchner x Kirchner: von der Brücke-Zeit (1905-1913) bis zum Davoser Spätwerk (1917-1937)
Wie schon 1933 spannt auch Kirchner x Kirchner den Bogen von den expressionistischen Anfängen im Umfeld der Künstlergruppe Brücke bis zum späten Davoser Werk. Im Unterschied zur historischen Ausstellung sind die einzelnen Schaffensphasen heute ausgewogener vertreten. Gezeigt werden auch Arbeiten, die 1933 in Bern fehlten – sei es, weil Kirchner sie bewusst ausschloss oder sie nicht zur Verfügung standen. So wird nachvollziehbar, welche Entscheidungen Kirchner damals traf – und warum.

Die Präsentation gliedert sich in fünf Themenräume. Sie zeigen zentrale Werkgruppen und machen zugleich Kirchners kuratorisches Denken sichtbar. Der erste Raum widmet sich den Dresdner und Berliner Jahren mit Aktdarstellungen, Strassenszenen und der Welt des Varietés. Diese Werke gelten bis heute als Höhepunkt seines Schaffens. In der Ausstellung von 1933 waren sie nur vereinzelt vertreten: Kirchner zeigte vor allem Arbeiten, mit denen er in Deutschland bereits Anerkennung gefunden hatte, oder Werke, die stilistische Innovationen besonders deutlich machten.

Dem gegenüber steht das Spätwerk im letzten Raum, das lange Zeit als weniger bedeutend galt. Für Kirchner selbst jedoch markierte es 1933 den Höhepunkt seiner Entwicklung – entsprechend dominierte es die historische Retrospektive.

Kirchners Ziel war es, seine stilistische Bandbreite sichtbar zu machen und seine Entwicklung durch die Werke selbst zu erzählen. Er stellte Arbeiten aus unterschiedlichen Schaffensphasen bewusst nebeneinander und verzichtete auf eine chronologische Hängung. Teilweise überarbeitete er sogar frühe Werke, um Entwicklungslinien sichtbar zu machen. Kirchner x Kirchner greift diesen Ansatz auf und macht sowohl die stilistische Vielfalt als auch die konzeptuellen Überlegungen hinter Kirchners Präsentation erfahrbar.

Der grosse Hauptraum ist der historischen Retrospektive gewidmet. Durch rekonstruierte Werkpaare, gezielte Durchblicke in andere Räume und Farbakzente wird Kirchners kuratorische Herangehensweise aufgegriffen. Gleichzeitig wird über die Auswahl der Werke auch die Geschichte des Ankaufs von Alpsonntag. Szene am Brunnen durch das Kunstmuseum Bern erzählt und damit ein Stück Sammlungsgeschichte sichtbar gemacht.

Die beiden angrenzenden, kleineren Räume konzentrieren sich auf formale und gestalterische Aspekte. An ausgewählten Papierarbeiten wird deutlich, wie Kirchner über Jahrzehnte hinweg mit Farbe, Fläche, Linie und Bewegung experimentierte und wie sich seine formale Sprache im Wandel doch treu blieb.

Die Auswahl der Exponate, die Kombination mit dem historischen Hintergrund und der neue Blickwinkel auf den Künstler machen das ambitionierte Ausstellungsprojekt Kirchner x Kirchner zu einem einmaligen Erlebnis. (Kunstmuseum Bern/mc/ps)

Ausstellungsinformationen

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