Das Bavonatal: Stromlose Sommersehnsucht

Das Bavonatal: Stromlose Sommersehnsucht
Bavonatal, Wasserfall von Foroglio (Foto: Helmuth Fuchs)

Nach der Tremola geht es weiter ins Bavonatal. Vor 45 Jahren erlag ich während eines Wanderlagers als Stiftsschüler dem Zauber der rauen Natur dieses abgelegenen und schroffen Tales. Ein Zauber, der auch der neuerlichen Begegnung stand hält.

Steile Felswände, die zischende Gischt schnell fliessender und fallender Bäche, unpassierbare dichte Wälder und dazwischen vereinzelt lieblich anmutende Wiesen bilden im Sommer und bei schönem Wetter eine perfekte Kulisse für Naturromantiker. Bei Regen, Nebel, im Winter oder den gewaltigen Gewittern, die in dieser Gegend losbrechen können, ist es schnell aus mit der Romantik und man bekommt einen guten Eindruck davon, was das Überleben in der Natur bedeutet: Ein entbehrungsreicher Kampf um Schutz und Nahrung.

Das Bavonatal mit seinen 12 Weilern (Terre) gehört zu den steilsten und steinigsten Tälern der Schweiz. Die Moderne ging am Tal vorbei, Elektrizität ist eine Seltenheit, ebenso wie guter Mobiltelefonempfang. Restaurant gibt es eigentlich nur ein nennenswertes, das La Froda in Foroglio.

Plinio Martini (1923 -1979, Lehrer in Cavergno und Cevio) beschreibt in seinem Roman „Nicht Anfang und nicht Ende“ (il fondo del sacco) Hunger, Armut, Lebensfeindlichkeit und Faszination des Tales. Sie treiben Gori um 1927 aus dem kargen Alltag im Maggiatal ins ferne Kalifornien. Zurück lässt er seine erste Liebe, Maddalena, seine Familie und Freunde. Zwanzig Jahre später kehrt Gori, geplagt von nicht endendem Heimweh, in seine Heimat zurück und findet nichts mehr, wie es war. Maddalena ist tot, die Mutter behindert und der Vater alt und gebrechlich geworden. Die in der Ferne ersehnte Heimat ist selbst fremd geworden. Eine Auswanderer- und Rückkehrergeschichte aus für Schweizer eher ungewöhnlichen Perspektive und gerade deshalb gemäss NZZ „einer der erstaunlichsten Romane, die in der Schweiz je geschrieben wurden“.

„Wir waren eine Insel ausserhalb der Zeit, die letzte Hand voll Mehl auf dem Grunde des Sackes“ Gori im Roman il fondo del sacco

Diesen Ort haben auch wir zum Bleiben gewählt, nicht wegen des Restaurants, das erst am Tag unserer Weiterreise öffnet, sondern wegen des eindrücklichen Wasserfalles und dem Tal der Calnegia, das sich hinter dem Wasserfall bis zur eindrücklichen Bergarena an der Grenze zu Italien erstreckt.

Der Wasserfall bildet eine Kulisse, die ebenso bedrohlich wie akustisch imposant das Dorf Foroglio beherrscht. Ein steiler Weg führt bis zur Absturzkante, gibt immer wieder den Blick zum beeindruckenden Naturereignis frei und eröffnet dann den Zugang zum ersten kleinen Weiler des Calnegia-Tales, Puntid.

Dem Bach entlang, der dem Tal den Namen gab, durch lichtdurchflutete Birkenhaine gelangen wir zur kleinen Alpsiedlung Calnegia.

Nach einer Pause nehmen wir den steilen Anstieg zur nächsten Alp. Hunderte von Granitblöcken wurden zu eindrücklichen Stufen gehauen und zusammengefügt. Auf 1’700 Metern über Meer geniessen wir einen fantastischen Ausblick zu den hoch aufragenden Gipfeln, die meisten auf 2’700 Metern und auf das Tal unter uns. Der Weg würde weiter führen zu den Laghi della Crosa, zur Capanna Piano delle Creste und von dort zum Beispiel nach San Carlo oder Roseto.

Dazu reicht uns die Zeit aber nicht, das Wetter ist ebenfalls zu unsicher und wir entschliessen uns zur Rückkehr. Auf dem Rückweg erfrischen wir uns im eiskalten Wasser des Baches (eine Gewohnheit, der wir wenn immer möglich am Ende einer Wanderung frönen). Nach dem Kälteschock auf den warmen Steinen an der Sonne wieder aufzutauen ist ein unbezahlbares Gefühl.

Es gibt im Leben nur sehr wenige Möglichkeiten, aus der Zeit zu fallen und wieder in sie zurück zu finden. Das Bavonatal ist ein solches Tor zur Vergangenheit. War vor 45 Jahren der Sturm und Drang das bestimmende Zeitgefühl, befeuert von Goethe, Hesse, Kerouac, oder Nitzsche, vertont von Chopin, Joplin, Jimi Hendrix oder Walter Lietha, ist heute der Drang weniger stürmisch, dafür die Zeit endlicher und dadurch dringender und dichter gewoben.

Der Ort, das Tal, die Rauheit, die Farben: Sie bleiben unverändert als Kulisse für Erlebtes und Kommendes. Zeit- und stromlose Orte für Sehnsüchte, die mehr als einen Sommer dauern. Das Bavonatal hält uns weiterhin gefangen.

Wanderung: 11.6 Kilometer, 1’067 Höhenmeter hinauf, eben so viele hinunter.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert