Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Auf den Müllhaufen der Geschichte

Lange hat sie nicht überlebt, die Modern Monetary Theory (MMT). Ähnlich wie Trump versprach sie den Himmel auf Erden – und scheiterte bereits am ersten Realitätstest. Dennoch fand diese hochumstrittene Theorie erstaunlich viel Resonanz. Im Kern behauptet die unorthodoxe, wirtschaftswissenschaftliche Theorie, Staaten mit einer eigenen, frei konvertierbaren Währung könnten nicht bankrottgehen. Denn anders als private Haushalte oder Unternehmen verfügen diese Staaten über eine Zentralbank, die jederzeit neues Geld schaffen kann.
von Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen
Warum also sparen? Warum schmerzhafte Kürzungen vornehmen, wenn die Zentralbank einfach neues Geld drucken kann? Endlich Schluss mit der Schuldenpanik, endlich ausreichend Mittel, um alle mit Bildung, Gesundheitsdienstleistungen und Altersrenten auszustatten und so lange die Nachfrage anzukurbeln, bis alle eine Arbeit haben. In der Schweiz müssten wir uns dann nicht mehr um die Finanzierung der 13. AHV-Rente, um die Steuerausfälle für die Abschaffung des Eigenmietwertes oder um eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben kümmern, denn im Keller der Nationalbank stünde ja die Gelddruckmaschine.
Naive Theorie
Wenn etwas zu gut tönt, um wahr zu sein, dann ist es das in der Regel auch. Solche naiven Konzepte, von gewissen Kritikern auch Voodoo-Ökonomie genannt, sind reine Zeitverschwendung. Umso erstaunlicher war die Verbreitung der MMT. Zunächst fand sie Anklang in akademischen Nischen, etwa in den USA und Australien. Nach der Finanzkrise 2008 gelangte sie im Zuge der Debatten über Staatsverschuldung, Austerität und die Eurokrise zunehmend in die politische Öffentlichkeit. Insbesondere in den USA fand die Theorie Zuspruch bei progressiven Politikern wie dem zweimaligen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders oder der demokratischen Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez, die mit diesem Glaubensansatz höhere Staatsausgaben legitimieren wollten. Auch die US-Ökonomin Stephanie Kelton trug mit ihrem Bestseller «The Deficit Myth» wesentlich zur Popularisierung bei. Offiziell wurde die MMT zwar nie politische Leitlinie, aber deren Ideen beeinflussten zunehmend die Diskussionen und sogar die Wall Street schien Sympathien zu hegen. Die massiven staatlichen Konjunkturprogramme während der Corona-Krise ähnelten der Logik der MMT. Die Theorie ist deswegen brandgefährlich, weil sie in der Politik leicht zur Ausrede für unbegrenzte Ausgaben und populistische Wahlversprechen werden kann. Sie ist eine grobfahrlässige Wette, die im Falle ihres Scheiterns der nachfolgenden Generation eine gewaltige Hypothek hinterlässt. Dabei genügt gesunder Menschenverstand: Wenn Wohlstand tatsächlich nur durch Gelddrucken entstünde, weshalb haben sich Menschen dann seit Jahrhunderten abgemüht, zu arbeiten, zu sparen und mit knappen Mitteln zu haushalten?
Generalprobe nicht bestanden
Die MMT war sich des Problems bewusst, dass eine unbegrenzte Ausdehnung der Geldmenge über die Notenpresse zwangsläufig zu Inflation führt. Sie versprach, dies durch Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen kontrollieren zu können und wähnte die Inflation als etwas, das kaum noch auftreten könne. Doch die letzten Jahre lieferten eine unfreiwillige Generalprobe. Während der Corona-Pandemie pumpten Staaten weltweit Billionen in die Wirtschaft – ganz im Geiste der MMT. Das Ergebnis: Die Inflation stieg auf den höchsten Stand seit Jahrzehnten. Ob in den USA oder Europa – die Preise für Lebensmittel, Energie und Mieten explodierten, die Kaufkraft der Bürger sank. Die Praxis hat gezeigt, dass Steuererhöhungen inmitten von Krisen politisch kaum durchsetzbar sind und staatliche Sparmassnahmen Jahre brauchen, um Wirkung zu entfalten. Mit anderen Worten: Das zentrale Korrektiv der MMT funktioniert nicht rechtzeitig.
Auch ein Blick nach Frankreich spricht Bände. Dort führte jahrzehntelanges Leben über die Verhältnisse nicht zu einer dynamischeren Wirtschaft, wie es die MMT verspricht, sondern nur zu hoher Anspruchsmentalität und sinkender Leistungsbereitschaft. Am Ende resultiert der Kontrollverlust über die finanzielle Handlungsfreiheit. Schon heute übersteigen die Zinszahlungen Frankreichs die Ausgaben für Bildung oder Militär. Und keine der sich immer rascher ablösenden französischen Regierungen kriegt die Ausgaben noch in den Griff. Das Problem betrifft aber nicht nur Frankreich. Ähnliche Entwicklungen zeichnen sich in England, Japan und den USA ab.
Die Geschichte lehrt anderes
Noch problematischer wird es im globalen Kontext. Die MMT unterschätzt nicht nur die Inflation, sondern auch die Rolle von Wechselkursen. Auf die Frage, wie in einer globalisierten Wirtschaft mit Wechselkursen, Kapitalflüssen und Abhängigkeiten von Importen umzugehen ist, bleibt die MMT-Antworten schuldig. Sie hat zwar recht, dass Staaten, die sich in ihrer eigenen Währung verschulden können, theoretisch nie zahlungsunfähig werden. Doch dies ist nur eine nominelle Betrachtung. Bei einer Monetisierung der Staatschuld verliert Geld an Kaufkraft, das Vertrauen in die Werthaltigkeit der Währung schwindet und die Wechselkurse brechen ein – die Bevölkerung verarmt. Am Ende zahlen nicht die Staaten die Rechnung, sondern die Bürger mit entwerteten Ersparnissen. Argentinien oder auch die Türkei sind aktuelle Beispiele. Die Geschichte ist voll ähnlicher Fälle, doch die Vertreter der MMT-Lehre sind diesbezüglich blind. Die Modern Monetary Theory ist daher mehr Ideologie als Ökonomie. Jeder Büezer weiss: Ein Franken lässt sich nur einmal ausgegeben. Diese Binsenwahrheit gilt auch für Regierungen, so unangenehm diese Wahrheit auch ist. (Raiffeisen/mc)