BlackRock Marktausblick: Rezession noch vermeidbar?

BlackRock Marktausblick: Rezession noch vermeidbar?
Dr. Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock. (Foto: zvg)

Von Martin Lück, BlackRock Leiter Kapitalmarktstrategie

Steht eine Rezession bevor? Diese Frage beschäftigt spätestens seit Russlands Überfall auf die Ukraine Volkswirte und Investoren gleichermassen. Und während in unserer Region das Gespenst einer „Gasmangellage“ und damit verbundener Zwangsabschaltung ganzer Industriezweige angesichts voller Gasspeicher weniger bedrohlich erscheint als noch vor wenigen Monaten, bleibt die Aussicht auf eine deutliche Abschwächung der ökonomischen Aktivität über den Winter sehr konkret.

Dabei scheint sich die Erwartung durchzusetzen, dass die Schrumpfung vergleichsweise mild ausfallen dürfte, etwa wenn man sie mit dem Covid-bedingten Einbruch Anfang 2020 vergleicht. Vom Tisch zu sein scheinen Prognosen eines Einbruchs beim BIP-Wachstum um mehrere Prozentpunkte. Die meisten Auguren halten einen relativ milden Rückgang für plausibel, und diese Einschätzung wird bisher von den am stärksten beachteten Frühindikatoren bestätigt. Sowohl die Einkaufsmanager- als auch der Ifo-Index, deren Updates am Mittwoch bzw. Donnerstag dieser Woche veröffentlicht werden, sollten allenfalls moderat zurückgehen, beim Ifo-Index wird sogar eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau, etwa in der Grössenordnung eines Indexwertes von 85, erwartet.

Für die Finanzmärkte ist dies nicht unerheblich, denn sollte sich bestätigen, dass ein ausreichendes Mass an Pessimismus mit zunehmender Wahrscheinlichkeit eingepreist ist, könnte dies bedeuten, dass der Zeitpunkt einer graduellen Ausweitung von Risikopositionierung näher rückt. Und im Fokus stehen hierbei naturgemäss Wachstum und Inflation. Denn genau diese Makrovariablen haben sich im bisherigen Jahresverlauf so ungünstig entwickelt, dass die Performance von Aktien und Anleihen derjenigen eines typischen Stagflationsjahres entspricht.

Wenn sich aber diesbezüglich die Aussichten derzeit leicht bessern, mit anderen Worten eine Plateaubildung bei der Inflation und vorsichtige Entwarnung an der Rezessionsfront (also die Aussicht auf moderate Abschwächung statt massiven Einbruch) zur dominierenden Erwartung von Marktteilnehmern werden, dann sei daran erinnert, dass nach wie vor gravierende Unterschiede zwischen Europa und den USA bestehen. Denn Europa dürfte erstens ein längeres und stärkeres Ansteigen der Inflationsraten erleben, und zweitens eine tiefere Rezession. Der Grund liegt, wie an dieser Stelle schon mehrmals geschrieben, erstens in der wesentlich höheren Energieabhängigkeit Europas und den damit verbundenen höheren Kosten. Bezogen auf das BIP geben Haushalte und Unternehmen in Europa mehr als doppelt so viel für Energie aus wie in den USA.

Während also einiges dafür spricht, dass die Preissteigerungsraten in den USA bereits ihren höchsten Stand erreicht und abzubröckeln begonnen haben, dürften sie in Europa noch über mehrere Monate sehr hoch bleiben bzw. weiter steigen. Damit wächst auch die Wahrscheinlichkeit einer tieferen Rezession, weil die Kaufkraft der Haushalte erodiert und die Margen der Unternehmen geschmälert werden. Und derweil diese von den Energiepreisen herrührende Befeuerung der Inflation Europa stärker belastet als die Vereinigten Staaten, verschlechtert sie damit auch die relative Wachstumsperspektive des alten Kontinents. Dies alles, zumal noch als zweiter Faktor die höhere Abhängigkeit Europas vom Welthandel (und dabei besonders von Ostasien) und als dritter die Nähe des Krieges als belastender Faktor für die Wirtschaftsstimmung dazukommen. Die Aktienmärkte jedenfalls beweisen in diesem Jahr einmal mehr ihr Gespür für die unterschiedliche Attraktivität von Unternehmen dies- und jenseits des Atlantiks. Denn wenn Aktien in der Eurozone seit Jahresbeginn um rund 21% an Wert eingebüsst haben, beträgt der Buchverlust bei ihren US-amerikanischen Pendants währungsbereinigt weniger als die Hälfte.

Russland und seine Wette auf Väterchen Frost
Über die Wintermonate dürfe sich Russlands Krieg gegen die Ukraine verändern. Während sich die russische Armee jenseits der Flüsse Siwerski Donez und Dnjepro eingräbt, um weitere Vorstösse ukrainischer Verbände im Donbass und dem Gebiet um Cherson zu vermeiden, zielt der Kreml zunehmend auf die Zerstörung ukrainischer Infrastruktur. Allein in den Tagen des G20-Gipfels in Bali wurden rund 100 Raketen und Marschflugkörper abgefeuert, geschätzt 30% davon trafen ihr Ziel. Vor dem Abzug aus Cherson sprengten russische Soldaten Berichten zufolge nahezu die komplette Strom- und Wasserversorgung der Stadt. Noch funktionsfähige Aggregaten des Atomkraftwerks Saporischja sind ebenfalls Ziele.

Bei alledem setzt Moskau offenbar darauf, mit der winterlichen Kälte den Widerstand der ukrainischen Bevölkerung zu brechen. Wenn also in den kommenden Wochen der Gefechtslärm abnimmt, sollten Marktteilnehmer dies nicht allzu optimistisch interpretieren. Der Krieg ist noch lange nicht beendet, ein Einlenken Putins nirgends absehbar. Für Europa bedeutet dies zweierlei: Erstens wird Solidarität mit der Ukraine auch und gerade dann dringend benötigt, wenn jetzt im Winter der Kanonendonner abnimmt, aber die Temperaturen sinken. Und zweitens heisst es für uns: Nach dem Winter ist vor dem Winter. Anleger sollten sich schon jetzt an den Gedanken gewöhnen, dass auch das Jahr 2023 von Krieg und Energiekrise bestimmt wird. (BlackRock/mc/ps)

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