Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Déjà-vu oder Jamais-vu?

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Déjà-vu oder Jamais-vu?
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Bei einer Déjà-vu-Erfahrung kommt einem etwas gerade Erlebtes plötzlich so bekannt vor, als hätte man es genau so bereits erlebt. Vor Kurzem stolperte ich über einen Artikel zum aktuellen Stand der Forschung zu diesem Phänomen. Wie bei vielen Prozessen, die im Gehirn ablaufen, tappt die Wissenschaft noch im Dunkeln. Entsprechend kursieren zu diesem Thema auch viele esoterische Erklärungsversuche. Gemäss einer Übersichtsstudie gibt es 72 Theorien zur Entstehung von Déjà-vus. Davon sind rund 50 wissenschaftlich, kommen also ohne übernatürliche Kräfte aus. Die grosse Anzahl zeigt, wie uneinig sich die Forschung noch ist. Noch viel weniger erforscht ist das «Jamais-vu», das Gegenteil des Déjàvus. Hier geht es darum, dass eine Situation als völlig neu oder fremd empfunden wird, eigentlich aber bekannt ist.

Sie ahnen sicher bereits, auf welches Thema ich hinauswill. Seit Ende letzter Woche dreht sich alles nur noch um die Turbulenzen im amerikanischen Bankensektor. Wenn eine Bank untergeht, dann natürlich an einem Freitag. So hat sie noch Zeit, in allerletzter Sekunde vielleicht doch noch einen Käufer zu finden. Vor allem aber spekuliert die Bank darauf, dass am Wochenende noch der Staat einspringt. Denn wenn die Angst der Regulatoren vor einer Kettenreaktion an den Märkten gross genug ist, kommt es vor dem Börsenstart in der neuen Woche meist tatsächlich noch zu einer Rettung. Das war auch diesmal wieder so. Oder besser gesagt: Die Kunden wurden gerettet, nicht die Bank, dazu aber gleich mehr.

Natürlich werden jetzt wieder Erinnerungen an den Kollaps von Lehman Brothers wach. Dabei hätte die verschärfte Regulierung nach der Finanzkrise ja genau verhindern sollen, dass der Staat je wieder eine Bank und ihre Kunden retten muss. Nur wurden eben bloss die grossen Banken härter an die Kandare genommen, nicht die kleinen. Banken mit einer Bilanzsumme von weniger als 250 Mrd. USD wurden bewusst geschont und gehätschelt, um ihnen im Wettbewerb mit den Grossen unter die Arme zu greifen. Daher ist es wohl kein Zufall, dass die Bilanzsumme, der in den letzten Jahren stark gewachsenen Silicon Valley Bank (SVB) immer unter dieser Schwelle blieb. Dadurch entging sie einer schärferen Regulierung, zum Beispiel sorgfältigen Stresstests, die jede grosse Bank von Gesetzes wegen durchführen muss und die wohl klar aufgezeigt hätten, dass die SVB ein zu grosses Zinsrisiko in den Büchern hält.

Der starke Zinsanstieg trifft jede US-Bank, nicht nur die SVB. Bei der Bank aus Kalifornien, wo der Posten des Chief Risk Officers einen Grossteil des letzten Jahres unbesetzt blieb, versagte das Risikomanagement jedoch komplett. Die grossen Banken sitzen vordergründig ebenfalls auf enormen Verlusten. Wenn sie die Staatsanleihen in ihrem Portfolio zum aktuellen Preis verkaufen müssten, würden sie insgesamt einen Verlust von mehreren hundert Milliarden Dollar einfahren, so heisst es jedenfalls in gewissen Kommentaren. Aber im Gegensatz zur SVB sichern die meisten Banken ihr Anleihenportfolio mit Derivaten gegen das Zinsrisiko ab. Und der stark gestiegene Marktwert dieser Derivate kompensiert den Preiszerfall bei den Anleihen, sodass der rasante Zinsanstieg zu viel weniger hohen Verlusten führt, als es den Anschein hat. Die SVB hat sich hingegen nicht abgesichert und damit auf tief bleibende Zinsen spekuliert. Als die Kunden plötzlich ihre Konten abräumten, musste die Bank, um an Liquidität zu gelangen, Staatsanleihen zu einem verlustbringenden Preis verkaufen.

Too bank to fail
Nun muss der Staat also wieder aufräumen. Der Aufschrei ist wie erwartet gross. Die Vollkaskoversicherung setze einen gefährlichen Standard und öffne der Sorglosigkeit Tür und Tor, heisst es. Doch stimmt das wirklich so? Die Aktionäre bleiben diesmal auf grossen Verlusten sitzen, ebenso die Obligationäre. Die Unternehmensführung ist gar per sofort freigestellt. Die vollständige Rettung der Kundengelder wirft aber tatsächlich ordnungspolitische Fragen auf. Normalerweise sind «nur» 250’000 US-Dollar durch das amerikanische Einlagensicherungssystem garantiert und im Konkursfall geschützt, der Rest ist unversichert. Diesmal haben die Regulatoren aber alle Kundeneinlagen gerettet, auch diejenigen über der Sicherungsgrenze. Das geht rechtlich nur, wenn die staatliche Einlagenversicherung FDIC ein systemisches Risiko feststellt.

Erstmals in der Geschichte wird damit ein ziemlich kleines Geldinstitut als systemrelevant betrachtet. Das ist keineswegs nur ein fachmännischer Entscheid der Technokraten von der FDIC und der Notenbank. Hinter den Kulissen war wohl die Regierung die treibende Kraft. Denn die Sillicon Valley Bank gilt als finanzielles Rückgrat des Tech-Ökosystems und dieses steht traditionellerweise der demokratischen Partei nahe. Die Rettung der Kundengelder hinterlässt deshalb einen faden Beigeschmack. Wenn das bereits bei einer solch kleinen Bank passiert, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass in Zukunft im Krisenfall wieder alle Kundengelder vom Staat garantiert werden. Die Gelder dafür kommen aus dem Einlagensicherungsfonds, der von den Banken finanziert wird. Nun müssen diese künftig wohl noch mehr auf die Seite legen und die Kosten dafür werden sicherlich auf die Kundengebühren geschlagen. Dass die Rettung der Kundengelder zu mehr Sorglosigkeit führt, glaube ich aber nicht mal unbedingt. Wenn überhaupt sind es vor allem die Aktionäre und Obligationäre, die ein Auge auf die Bankbilanzen haben, und nicht die Kunden, schon gar nicht die Kleinsparer.

Inflation noch nicht besiegt
Mehr Sorgen macht mir da, ob die amerikanische Notenbank überhaupt noch gewillt ist, die Zinsen weiter zu erhöhen. Noch Anfang letzter Woche signalisierte sie weitere Zinsschritte, vielleicht sogar grössere als bei der letzten Lagebeurteilung. Nun wird an den Finanzmärkten aber bereits über mögliche Zinssenkungen spekuliert. Das halte ich dann doch für verfrüht.

Die bisherigen Zinserhöhungen scheinen zwar langsam ihre Wirkung zu entfalten, aber der Prozess hat erst begonnen. Und die Inflationszahlen vom Dienstag zeigen einmal mehr, dass die Teuerung hartnäckig ist. Die Gesamtrate fiel im Februar zwar von 6.4% auf immer noch sehr hohe 6.0%. Die Kerninflation, also die Teuerung ohne die volatilen Komponenten Energie und Nahrungsmittel, blieb aber bei 5.5%. Das ist noch immer sehr weit weg von Preisstabilität und die Konsumenten spüren das alltäglich. Nahrungsmittel zum Beispiel sind knapp 10% teurer als letzten Februar.

Damit ist der Fall eigentlich klar. Die Zinsen müssen weiter hoch bleiben und vielleicht auch noch etwas steigen. Ausser es kommt zum Déja-vu und die Notenbank knickt wieder ein. (Raiffeisen/mc)

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