Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Den Letzten beissen die Hunde

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Den Letzten beissen die Hunde
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Seit wenigen Tagen sorgen Aufsehen erregende Meldungen für Unruhe in der Schweiz. Die Gemeinde Seegräben hat einem Mieter die Wohnung gekündigt, um ihrer Verpflichtung, Asylsuchende und Flüchtlinge aufzunehmen und unterzubringen, nachzukommen. Im Kündigungsschreiben heisst es: «Trotz intensiver Suche in den vergangenen Wochen lassen sich aktuell keine geeigneten Wohnungen über den freien Markt finden».

Eine neue Erkenntnis wohl höchstens für die Gemeinde selbst. Nicht erst seit gestern haben wir das Thema der Wohnungsnot auf dem Tapet und ich habe mich als Erster und danach wiederholt in dieser Kolumne zum Thema geäussert. Viel ist seitdem allerdings noch nicht passiert, nur, dass inzwischen die ganze Schweiz von Wohnungsmangel spricht. Und so kommt es nun, wie es kommen musste. In Windisch erhielten diese Woche 49 Mietende das Kündigungsschreiben, was noch immer ziemlich Wellen schlägt. In Mettmenstetten sorgt der beabsichtigte Kauf einer höherwertigen 5-Zimmer-Wohnung für eine Million Franken durch die Gemeinde für Unruhe. Es lassen sich wohl noch etliche ähnlich lautende Meldungen finden, denn anscheinend läuft das Fass gerade über.

Diese Krise war eine Krise mit Ansage. Spätestens mit der Etablierung des «Schutzstatus S» und der Öffnung der Grenzen für die ukrainischen Flüchtlinge musste jeder Exekutive klar gewesen sein, dass die riesige Flüchtlingswelle nun nicht mehr nur mit ein paar philanthropischen Grundsatzgedanken und Durchhalteparolen zu bewältigen sein würde. Denn jeder braucht nun mal ein Dach über dem Kopf und wer über 60’000 Leute ins Land des Wohnungsmangels einlädt, gleichzeitig aber nichts dafür tut, den nötigen Wohnraum zu schaffen, der sollte den Ball jetzt mal schön flach halten.

Natürlich sind die Gemeinden als die letztlich Ausführenden der Verordnungen von «oben» schon gelackmeiert genug, doch nun haben sie auch noch den schwarzen Peter gezogen. Leute auf die Strasse zu stellen, um anderen ein Dach über dem Kopf anbieten zu können, ist nicht nur forsch, sondern Umverteilungspolitik der feinsten Sorte. Was beispielsweise, wenn die gekündigte Person in Seegräben verankert ist und sich nun selbst auf die Suche über den sogenannt freien Markt machen muss? Wird sie wohl fündig? Wenn überhaupt, sicher nicht in nützlicher Frist. Und der gekündigte Mieter dürfte kaum die Möglichkeit haben, eine Behörde zu beauftragen, ihm einen adäquaten Wohnungsersatz bereitzustellen.

Das sind Zustände, die hierzulande eigentlich nicht passieren dürften, darüber dürfte weitgehend Einigkeit herrschen. Es geht auch gar nicht (mehr) darum, einen Schuldigen zu finden. Sämtliche Gebietskörperschaften dürften hier ihren Beitrag zum Elend beigesteuert haben, aber ein schaler Nachgeschmack bleibt, vor allem, weil es ja bekanntlich auch anders geht.

In Birr ist soeben ein Bauwerk von nationaler Bedeutung (NZZ) fertiggestellt worden. Das Notkraftwerk Birr wurde in absoluter Rekordzeit aus dem Boden gestampft, inklusive 20 Meter hoher Lärmschutzwand, um die befürchtete, jedoch nie eingetretene Strommangellage zu dämpfen. Es ist zwar fraglich, ob dieses Kraftwerk jemals laufen wird. Doch darum geht es gar nicht, sondern darum, wie rasch es möglich war, im Energiesektor eine vermeintliche Mangellage präventiv und speditiv an die Hand zu nehmen und dabei – untypisch eidgenössisch – unkonventionell, speditiv und effizient ein beachtenswertes Bauwerk aus dem Boden zu stampfen.

Offenbar hatte der Bundesrat mehr Angst davor, uns die Temperatur im Winter ein Grad runterzustellen, als infolge einer unbedachten Asyl- und Flüchtlingspolitik einige Mieter auf die Strasse stellen zu müssen. Natürlich wird nun wieder jeder dem anderen die Schuld in die Schuhe schieben «müssen», ob nun aber Bund, Kantone oder Gemeinden letztlich an dieser Misere schuld sind, ist eigentlich nebensächlich. Fakt aber ist: Wir können offenbar Grosses leisten, aber nur wenn wir es auch wollen.

Könnte es sein, dass die Gemeinden bewusst auf diesen Engpass hingesteuert haben? Oder haben die Kantone die Kontingente aus Gemeindesicht nicht sauber verteilt? Oder hätte der Bund erst gar nicht beide Arme öffnen und neben all denen, die schon ins Land strömen, auch noch grosszügigeres Entgegenkommen beweisen sollen? Bald 80’000 Flüchtlinge aus der Ukraine, also rund 0,9 % der Bevölkerung, leben aktuell in der Schweiz. In vielen EU-Mitgliedstaaten sind es deutlich weniger, in Frankreich nicht einmal 0,2 % der Bevölkerung, in Italien unter 0,3 %, in den Niederlanden nicht ganz 0,5 %. Dass es im Baltikum, in Polen oder Osteuropa mehr sind, ist naheliegend, Deutschland kommt auf 1 % und hat dieselben Probleme mit der Unterbringung.

Auch in unserem nördlichen Nachbarland wurden bestehende Mietverhältnisse gekündigt, um Platz für Flüchtlinge zu schaffen. Es gibt also offenbar eine Schmerzgrenze und die dürfte – je nach Land und Infrastruktur – bei maximal 0,5 % der Bevölkerung liegen. Bei uns ist sie jedenfalls definitiv überschritten. Um jetzt darüber zu hadern ist es aber zu spät, denn es ist nun mal «verbockt» worden, aber wir sollten Lehren aus Birr und Windisch ziehen.

Notfallhilfe heisst nicht «nur» Hilfe, sondern vor allem Notfall. Wer hilft schon nicht gern und erfreut sich an der Dankbarkeit der Notleidenden? Mit Worten sind allerdings noch keine Wohnungen gebaut worden, genauso wenig wie Kraftwerke. Dafür braucht es Taten wie in Birr und einen klaren politischen Willen, der bei uns in Bezug auf Ausländerfragen immer mehr verloren zu gehen scheint. Es brodelt bekanntlich schon seit Längerem in der Bevölkerung, aber der politisch ausgetrocknete Wohnungsmarkt droht nun das Gefüge überzustrapazieren.

Wir müssen nun richtig klotzen und schnell, und zwar sehr schnell Wohnungen bereitstellen. Nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für Schweizer oder hier Ansässige, die den Job wechseln, eine Familie gründen wollen oder aus anderen nachvollziehbaren Gründen umziehen müssen. Denn die Wohnungsnot trifft früher oder später letztlich die ganze Bevölkerung. Dann wird aus dem «Letzten Herrn in Seegräben», welchen die Hunde bissen, plötzlich eine aufstehende Masse, die sich von ein paar Hunden nicht einschüchtern lässt. Es ist Zeit, alle Ressourcen zu mobilisieren, um dies zu verhindern, oder wollen wir wirklich darauf warten, dass wieder Schaufenster zu Bruch gehen? (Raiffeisen/mc/pg)

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