Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Krise? Welche Krise?

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Krise? Welche Krise?
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Als Teenager gehörte die Band Supertramp zu meinen Lieblingen. Einfache Texte, coole Musik und viele Ohrwürmer. Das Album «Crisis? What Crisis?» wurde 1975 produziert und steht noch heute im Schatten des ein Jahr zuvor produzierten Albums «Crime of the Century», das wohl zum Besten zählt, was die Pop-/Rockgeschichte je hervorgebracht hat. Die Titel beider Alben haben etwas Apokalyptisches und sind aktueller, als einem lieb sein möchte, obwohl sie schon vor fast 50 Jahren produziert wurden.

Zum «Crime of the Century», dem Verbrechen des Jahrhunderts, gehört für mich die rücksichtslose und scheinheilige Art wie wir in den reifen Industrienationen noch immer leben, obwohl wir wissen, dass dies unserem Planeten irreversiblen Schaden zufügen könnte. Supertramp drückte es so aus: « (…) planen sie das Verbrechen des Jahrhunderts (…). Lies doch nur, was sie sich alles ausdenken und was sie dabei aufs Spiel setzen. (…) schau dir an, wie sie das Universum vergewaltigen. Wie sie vom Schlechten zum Schlimmeren kommen konnten. Wer sind die Menschen, die nur Gier und Geltungssucht kennen? Reissen wir ihnen die Masken runter und schauen nach. Aber das ist doch nicht möglich – oh nein, was ist da los? Das bist ja du, und das bin ja ich (…).» Der Text hat’s in sich, wie ich finde, denn wenn – so wie heute – jeder auf den andern mit dem Finger zeigt, zeigt auch jemand auf uns. Doch verlassen wir die wohl schwerwiegendste, von uns meisten aber am liebsten verdrängte Krise des Raubbaus an unserm Planeten. Es gibt ja bei weitem nicht nur die ökologische Krise, sondern auch gleich noch eine Vielzahl politischer, sozialer und ökonomischer Krisen, welche mit dem Titel des Albums «Crisis, what Crisis?» am Besten umschrieben werden. Von welcher Krise ist am Ende überhaupt die Rede?

Wir wissen es immer erst im Nachhinein. Da waren die Japankrise, die Immobilienkrise(n), Schuldenkrisen wie die Argentinien-, Asien- oder die Russlandkrise, die Dotcomkrise und die Lehman-Krise oder die Eurokrise. Wir haben in den letzten drei Dekaden schon so viele vornehmlich ökonomische Krisen erlebt, dass wir vermeintlich krisenresistent, aber auch sehr krisenmüde geworden sind. Die politischen Krisen haben wir sowieso satt und selbst Kriege, Korea, Syrien, Afghanistan usw. und der Zerfall ganzer Staaten. Die Sättigung geht so weit, dass, wenn man sich mit jemanden über eine Krise unterhält, das Gegenüber schon fast reflexartig entgegnet: «Aber das ist noch viel schlimmer». Jeder hat seine eigene Krisenhitliste. Noch krasser sind Reaktionen wie, «das Ganze ist ja überhaupt nicht wahr» und die Steigerung davon lautet, «das war ja gar nicht wahr». Als in Deutschland Geborener habe ich einige erlebt, die das behaupteten.

Trotz all der Krisen leben wir heute in Tat und Wahrheit ziemlich locker. Wir lösen die Krisen nicht, sondern schieben sie vor uns her. Der ganze Schutt, der sich dabei vor uns aufbäumt, ist immer schwerer aus dem Weg zu schaffen, weshalb wir auch immer schwerere Bagger auffahren. Die neuzeitlichste Regel der Krisenbeseitigung lautet: «whatever it takes», wie es der seinerzeitige europäische Notenbankchef Mario Draghi am 26. Juli 2012 ausdrückte. Heute mischt derselbe Herr Professor als italienischer Ministerpräsident milliardenschwere Konjunkturprogramme zusammen und erinnert seine Nachfolgerin bei jeder Gelegenheit an seine historische Parole.

Wir «Normalbürger» sind derweil die Meister des Vergessens und Verdrängens geworden. Die Finanzmärkte, Herd und Auslöser fast jeder Wirtschaftskrise der jüngeren Vergangenheit, sind nun mal nicht belehrbar. Und wenn das mit dem Verdrängen nicht klappt, werden wir zu Meistern des Outsourcens. Draghi und Konsorten werden es schon richten. Noch lässt man sie gewähren, denn so lange es noch Fleisch auf dem Teller hat, kann die Krise ja so schlimm nicht sein. Allerdings ist seit geraumer Zeit durch die Gier an den Finanzmärkten und eine völlig enthemmte Geld- und Fiskalpolitik ein Umverteilungsprozess in Gang gesetzt worden, der vielleicht einmal in eine Krise ganz anderer Dimension münden könnte. Sie wird durch die Coronakrise noch zusätzlich befeuert.

Im Grunde ist sie schon da, wir spüren sie nur noch nicht so recht. Doch Nullzinsen, Währungsbingo und fiskalpolitische Basteleien ziehen zunehmend Unwohlsein nach sich. Es ist wohl die Midlife-Crisis unseres Nachkriegs-Wirtschaftssystems. Es kriegt langsam Runzeln und Falten. Gegen die helfen auch keine fiskalischen Puder und Schminken oder geldpolitische Schönheitseingriffe. (Raiffeisen/mc/pg)

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