Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Langsam, aber stetig

Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Langsam, aber stetig
Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Neulich habe ich mich über Mittag mit einer alten Bekannten getroffen, die ich schon über ein Jahr nicht mehr gesehen hatte. Sie wollte mich hocherfreut mit Küsschen begrüssen, eins links, eins rechts, eins links. Wie man das hierzulande halt so macht unter (guten) Bekannten. Ähnliches geschah neulich abends beim Nachtessen mit einem meiner besten Freunde, den ich auch etwas aus den Augen verloren hatte. Er streckte mir zur Begrüssung die Hand hin und als ich meine instinktiv wegzog, hiess es: „Mir wirst Du die Hand doch noch geben!“ Schon hatte er mich überrumpelt und ich gab sie ihm, aus Versehen sozusagen.

Die beiden Episoden führten mir drei Dinge vor Augen. Erstens fällt es vielen generell schwer, ihre lange gelebten emotionalen Gewohnheiten zu ändern. Zweitens werden, beim Versuch etwas zu ändern, auch die besten Vorsätze – namentlich, sich nicht die Hand zu geben – nicht zu 100% eingehalten. Und drittens – und das ist das wahre Übel an COVID-19, dass man, egal was man tut, ein schlechtes Gewissen hat. Der die Hand hinstreckt genauso wie der, welcher den Handshake verweigert. Niemand fühlt sich mehr klar im Recht. Wohl auch aus diesem Grund ist der Spalt in unserer Gesellschaft durch COVID-19 grösser geworden. Auch das sind keine wegweisenden Neuerkenntnisse, aber sie unterstreichen, wie schwer es erst ist, rational zu bleiben, wenn wir mal aus der gewohnten Bahn geworfen werden.

Dabei wären gerade jetzt ein kühler Kopf und Geduld gefragt und natürlich auch der Verzicht, den ich schon wiederholt ins Feld führte. Es gibt schliesslich kein Grundrecht auf Ballermann in Mallorca. Genau so wenig wie eines für Interkontinentalflüge, Flüge überhaupt, Kreuzfahrten, Shoppingtouren, Partys und auch nicht für Sport- oder Kulturveranstaltungen mit Massenpublikum. So sehr wir uns auch die Normalität vor Corona zurückwünschen: Es dürfte noch ein Weilchen dauern dahin. Anstatt uns nach dem alten Normal sehnen, wäre es vielleicht mal an der Zeit, sich zu fragen wie normal das Alte denn war.

Der rationale Mensch, auf dem sehr viele Modelle der klassischen und der moderneren Volkswirtschaftslehre aufbauen, ist eine inexistente Lebensform, wie uns Corona aktuell vor Augen führt. Wider besseren Wissens kommt es – harmlos ausgedrückt – immer wieder zu Ausfällen des menschlichen Gehirns und diese werden dafür sorgen, dass uns Corona treu bleibt. Es sei denn, das Virus schafft sich selbst ab oder aber verliert an Schärfe. Wir vertreiben es jedenfalls nicht, solange wir uns nicht einig darüber sind, wie gefährlich COVID-19 wirklich ist und ob überhaupt und was man im Minimum dagegen tun sollte. Der gesellschaftliche Konsens ist wohl auch deshalb am Kippen, weil die Betroffenheit je nach Nation, Geschlecht, Alter, gesundheitlicher Vorgeschichte etc. völlig unterschiedlich ausfällt.

Wenn dann flächendeckende Massnahmen verordnet werden, dann schränkt das die einen vermeintlich über Gebühren ein, während es die anderen vermeintlich übertrieben schützt. Es wäre längst Zeit für einen gesellschaftlichen Konsens zu Corona, doch dafür fehlt die wissenschaftliche Basis. Und so gibt es heute richtige Corona-Lager, die in ihrer Ausprägung unüberwindlich weit auseinander liegen.

Grenzwissenschaften
Dass Ökonomie keine exakte Wissenschaft ist, weiss mittelweile jeder. Medizin hingegen schon eher, zumindest dachten viele das noch bis vor kurzem. Doch seit man sich im Corona-Neuland bewegt, zeigen etliche medizinische Teildisziplinen unübersehbare Schwächen. Auch die Biologie ist nicht über Zweifel erhaben, wie uns die Virologie vor Augen führt, ebenso die Immunologie. Ganz zu schweigen von der Epidemiologie. Egal aus welcher Disziplin die Wissenschaftler stammen, es gibt die seriösen, aber langweiligen, die glamourösen, aber nur mediengeilen, dann die ehrlichen, die aber Kopfschütteln erzeugen, weil sie zu ihrem Halbwissen stehen und viele andere mehr.

Es geht nicht selten eher um die Sympathie, welche die Wissenschaftler wecken als um deren Wissen selbst. Dieser bunte Zirkus ist in jedem Land seit Ende Januar auf Tournee und hat seine Fanclubs und Schmäher. Manch ein Immunologe mutierte längst zum medialen Superstar, ein anderer zum Buhmann und nicht wenige stehen sehr, sehr einsam da und zwar weil fast jedes Wort eines „Spezialisten“ auf die Goldwaage gelegt wird. Wenn dann die Politik auf solch einem Sammelsurium von „wissenschaftlichen“ Analysen und Meinungen mit offenbarem Mangel an Konsistenz und Kohärenz Entscheidungen grosser Tragweite fällt, ist es nicht weit, bis sie sich der geharnischten Kritik gewiss ist. Oder des bürgerlichen Ungehorsams, der sich längst nicht mehr nur unterschwellig breit macht.

Kritische Bürger…
In Ländern wie China, in denen es keinen – zumindest offiziellen – Interpretationsspielraum der Öffentlichkeit gibt, lässt sich ein Virus eher eindämmen, weil die staatliche Autorität dort die allerletzte Instanz ist. Und diese sanktioniert knallhart, wenn sich jemand auflehnt. In Demokratien ist das bekanntlich anders. Freiheitsliebend wie etwa wir Schweizer sind, begegnen wir dem Staat eher skeptisch und hinterfragen seine Rolle kontinuierlich, was gut ist, denn die Macht in Demokratien gehört bekanntlich dem Volk. Das Volk ist aber nicht selbst die Exekutive, sondern es delegiert die Ausführungsmacht und lässt sie durch Parlamente kontrollieren. Notrechtliche Massnahmen sind in diesen Systemen möglich aber nicht die Regel. Und vor allem selten von langer Dauer. Genau das ist aber nun der Fall und das zeigt die Tücken des Systems schonungslos auf. Anstatt einen Konsens anzustreben, rücken die Positionen der Bürger beim Kampf um die Deutungshoheit immer weiter auseinander. Die ohnehin schon stark in Zweifel gezogene staatliche Autorität wird so irreversibel untergraben.

Parallel dazu keimen die wildesten Gerüchte oder Verschwörungstheorien. Einige Beispiele für die hartnäckigsten: Das Virus wurde im Labor hergestellt, die Einnahme von Ibuprofen (Schmerzmittel) erzeugt Corona, das Virus dient der Schaffung einer neuen Weltordnung, Bill Gates will die Menschheit zwangsimpfen und so überwachen (weil gleichzeitig eine Microchip gespritzt wird), der Mobilfunkstandard 5G verbreitet das Virus und was nicht sonst noch alles im Netz kursiert. Es hat für jeden was drunter. Dabei ist das Fazit doch so einfach: es gibt keine einfachen Antworten auf schwierige Fragen. Die Regierungen müssen sich deshalb mehr und mehr erklären, um das Vertrauen ihrer Bürger nicht zu verspielen. Sollten sie sich nicht ein Beispiel an den Notenbankchefs nehmen?

…Hörige Spekulanten
Die Notenbankchefs haben ja vor gut 10 Jahren endgültig das Regime über die Märkte übernommen, nachdem sich die Regierungen bei der Rettung des Finanzsektors im Nachgang der Finanzkrise finanziell überlupft hatten. Seitdem peitschen die Notenbanken die Finanzmärkte mit billigem Geld zu Höchstleistungen. Die Blasen an den Finanzmärkten sind gewaltig, in der Realwirtshaft kommt das billige Geld gar nie an, aber kaum jemand macht sich darüber grosse Sorgen. Denn Anleger, Investoren und Spekulanten vertrauen ihren Regierungen fast blind und die Normalbürger schrecken vor der vermeintlichen Komplexität der Finanzmarktmaterie zurück. Dabei haben auch die Notenhüter mit unkonventionellen Massnahmen Neuland beschritten und sind auch heute noch den Beweis schuldig geblieben, tatsächlich erfolgreich zu wirken. Aber sie halten die Märkte bei Laune, selbst in Corona-Zeiten, in dem sie immer wieder neue Massnahmen aus dem Hut zaubern und diese mit teils brachialen
Voten den Märkten einimpfen.

Aber die Finanzmarktcommunity tickt ja bekanntlich ziemlich einfach, da reicht ein „whatever it takes“ und der Euro ist gerettet. Für die Rettung der Normalos vor dem Virus braucht es aber mehr als markige Worte und ein Wirrwarr nicht konsistenter Massnahmen auf nationaler, teils sogar untergeordneter Ebene. Ausgangsverbot in Spanien, keine Massnahmen in Schweden. Man stelle sich solch ein Durcheinander an den Finanzmärkten vor – Crash vorprogrammiert. Exekutive hab Acht.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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