Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Lehren des Slowdowns

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Lehren des Slowdowns
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Die Woche startete äusserst verheissungsvoll. Über das Wochenende wurde endlich klar, wer in den kommenden vier Jahren die grösste Volkswirtschaft der Welt führen wird. Aber noch viel besser: es gib BNT162b2! Das ist die Bezeichnung für einen vielversprechenden Impfstoff gegen das Coroanvirus. Die US-Wahlen bzw. deren Auszählung dauerten fast schon eine gefühlte Ewigkeit, gegen die Entwicklung des Impfstoffes, die in Rekordzeit erfolgte.

Wenn alles rund läuft, werden die beiden Hersteller BioNTech und Pfizer in den kommenden Wochen in den USA eine Notfallzulassung für den Impfstoff beantragen. Der Jubel an den weltweiten Börsen war deshalb am Montag fast grenzenlos. Sie feierten endlich die im Stillen schon so lang herbeigesehnte Impfstoffparty. Die Logik dahinter: zwei Baustellen weniger, auch wenn das mit dem Impfstoff auch noch etwas dauert. Immerhin, endlich ein Licht am Ende des Horizont.

Es ist in der Tat auch ein schöner Gedanke, bald endlich mal wieder frei zu sein. Wobei wir hierzulande eher sagen müssten, sich wieder frei zu fühlen, denn richtig eingesperrt waren wir ja nie, so wie unsere europäischen Nachbarn oder andere Völker der Erde. Auch jetzt, da wir in der Corona-Statistik weit oben liegen, hält sich unsere Regierung insgesamt noch vergleichsweise zurück. In anderen Ländern hätte unsere Statistik der Fallzahlen mit Sicherheit drastischere Einschränkungen nach sich gezogen. Noch setzt der Bund auf Eigenverantwortung, denn wer hat es schon besser im Griff, mit wie vielen Menschen er sich wie oft trifft, als er selbst. Die Zahlen der Neuinfektionen sind rückläufig, auch deren 7-Tage-Durchschnitt zeigt wieder nach unten. Dafür laufen die Spitäler heiss und die Todesfälle steigen auch noch. Doch der Trend könnte gebrochen sein. Es gilt jetzt nur den Winter einigermassen zu überstehen.

Schweiz gut dabei
Das wird allerdings nicht jedem gelingen und auch nicht jedem Unternehmen. US-Wahlen, Impfstoff hin oder her, noch ist die europäische Wirtschaft teils ab-, teils langsam geschaltet. Und auch wir spüren, dass alles schon wieder gemächlicher über die Bühne geht, seit dem Slowdown. Die Bewegungsdaten Pendler- oder Fahrten sprechen eine klare Sprache. Das vierte Quartal wird wohl nochmals ins Minus rutschen, der kurze Sommertraum der Wirtschaft ist längst Vergangenheit. Erste Konkursmeldungen prominenterer Natur aus der Hotelbranche liessen letzte Woche aufhorchen, von einer Konkurswelle kann deshalb aber noch nicht die Rede sein. Wohl wird es speziell im Gastgewerbe zu erhöhten Betriebsschliessungen kommen, da im jetzigen Umfeld kein Geld mehr verdient wird. In dieser Branche ist die Substanz aber auch am Dünnsten. Die Arbeitslosenzahlen sind unverändert tief, noch verhindert die bewährte Kurzarbeit einen Ansturm auf die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) und die Auslastung im verarbeitenden Gewerbe ist weniger verheerend als mithin befürchtet werden musste.

Dass der stationäre Detailhandel geöffnet bleiben darf, erspart ihm sicherlich ähnlich heftige Einbrüche wie im März und April des Jahres. Ganz ungeschoren wird er aber nicht davon kommen. Der Fels in der Brandung aber ist der Immobilienmarkt. Ausser einem nur geringfügig höheren Leerstand im Mietwohnungsmarkt stehen alle Indikatoren genau da, wo sie schon vor Corona standen. Die Preise für Wohneigentum steigen, die Nachfrage danach ist hoch, nur das Angebot wird immer knapper. Trotz höherem Leerstand werden auch munter weiter Mietwohnungen gebaut, allerdings ist die Projektpipeline nicht mehr annähernd so prall gefüllt wie vor drei oder vier Jahren. Dennoch hat im Mietwohnungsmarkt ein neuer Prozess begonnen, in dem die Verdrängung älterer Mietwohnungen durch neue langsam greift. Fazit über alles: Die Schweizer Wirtschaft steht angesichts dessen, was hinter ihr liegt und sie gerade durchmacht noch erstaunlich gut da. Es gilt jetzt nur den Winter einigermassen zu überstehen.

America first
Auch den USA steht kein einfacher Corona-Winter bevor. Jetzt, wo das Wahlfieber weg ist und der Alltag wieder einkehrt, müssten so schnell wie möglich Konjunkturspritzen verabreicht werden, ansonsten droht der Konsum schon wieder wegzubrechen. Aber wird das noch was, so lange der amtierende Präsident die treibende Kraft dahinter sein müsste, hatte der nicht posaunt, nach dem Gewinn der Wahlen ein grosses Stimulus-Paket zu schnüren? Bis Joe Biden sein angekündigtes, riesiges Konjunkturprogramm umsetzen kann und dieses greift, wird es zu spät sein. Wir Europäer sollten daher in den kommenden Monaten nicht dem Irrglauben verfallen, dass die USA-Wirtschaft rasch wieder zur Konjunkturlokomotive wird. Und schon gar nicht, dass mit einem smarten neuen US-Präsidenten alles ändert, was Trump unter seinem Motto «America first» initiiert hat.

Auch Joe Biden ist kein Fan des Freihandels und vor allem wird er vor dem grossen Auftritt auf der internationalen Bühne erst mal versuchen, das Heim wieder einigermassen in Ordnung zu bringen. Ein Unterfangen, das seine ganze Amtszeit begleiten wird, denn die USA sind gespaltener denn je in zwei unversöhnliche Lager. «America first» gilt somit auch für ihn. Spürbar ändern, bessern, werden vorerst lediglich Umgang und Ton.

Langsamer als die Börse
An der Börse wurden gerade Titel im grossen Stil abgestossen, welche Nutzniesser der Corona-Pandemie waren und solche gekauft, die am ärgsten von ihr betroffen waren. Die Börsianer bringen sich sozusagen für die Konjunkturwende in Stellung. Sie setzen mit dem dafür bewährten Branchenmix auf das Comeback des quantitativen Normals, die Rückkehr der Wirtschaftsleistung auf die quantitativen Niveaus von vor der Krise und danach quantitatives Wachstum. Sie tun damit das, was sie immer tun, wenn der Konjunkturhimmel sich aufhellt – business as usual.

Auch wir freuen uns auf die wieder in Sicht gerückte Normalität, doch heisst das dann auch gleich wieder business as usual? Es wäre zu hoffen nein, denn das Herunterfahren unseres Lebens hatte ja auch sein Gutes, wie man überall liest und hört. Menschen entdeckten entzückt Orte und Dinge, auf welche sie vor Corona nie ein Auge geworfen hatten, vor der Haustüre, bescheidene Angelegenheiten. Für die Wirtschaft wäre es allerdings nicht gut, wenn wir unsere gezügelten Bedürfnisse nicht wieder auf das Vorkrisenniveau hochfahren. Doch was heisst da Wirtschaft? Wir sind schliesslich ein wesentlicher Teil davon und wenn wir uns entschliessen sollen, etwas Slowdown beizubehalten, kann das unser Leben im wahrsten Sinn des Wortes bereichern, qualitativ natürlich nicht quantitativ versteht sich. Und die Wirtschaft würde es verkraften, unsere sowieso. (Raiffeisen/mc)

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert