Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Wunderbare Isolation

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Wunderbare Isolation
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

England setzte gegen Ende des 19. Jahrhunderts politisch auf völlige Bündnislosigkeit. Allianzen ging es in dieser Zeit keine mehr ein und konzentrierte sich auf den Ausbau seiner Kolonien. Seit der Versenkung der spanischen Armada 1588 beherrschte England mehrere Jahrhunderte lang die Weltmeere, das British Empire war das grösste Kolonialreich der Weltgeschichte und dank seiner Insellage war England faktisch nicht angreifbar. Es kümmerte sich deshalb gut ein Jahrhundert lang nicht gross um die Geschehnisse in Kontinentaleuropa und begab sich in eine «splendid isolation». In einem von Reichtum und Macht nur so strotzenden Land, das England damals war, wurde eine Isolation als wunderbar empfunden. Fast schon paradox, aber historische Tatsache.

von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

Seit dem Brexit befindet sich das Vereinigte Königreich wiederum in einer Art Isolation. Allerdings dürfte diese von den Briten kaum als wunderbar wie seinerzeit empfunden werden. Das Land ist nämlich ziemlich am Boden angekommen. Das ist zwar nicht allein dem Brexit geschuldet, aber dessen negativer Einfluss auf das britische Wirtschaftsgeschehen lässt sich kaum leugnen. So wurde die britische Wirtschaft sehr viel härter vom Coronavirus zurückgeworfen als andere europäische Volkswirtschaften und trotz eindrücklichem Rebound der Wirtschaft im Jahre 2021 wurde das Vorcoronaniveau erst vor kurzem wieder überschritten. Die Freude darüber währte nur kurz, denn im laufenden Jahr erlitt die britische Wirtschaft den nächsten Rückschlag. Überbordende Energiepreise und eine davongaloppierende Inflation machen ihr schwer zu schaffen. Im Juli lagen die Konsumentenpreise um 10.1 % über dem Vorjahresniveau und die Kerninflation, die saisonal schwankende Güter und Energiepreise nicht mitberücksichtigt, überschritt die Marke von 6 %, eine Grössenordnung, welche die Bank of England weiterhin in höchste Alarmbereitschaft versetzen wird.

Im Detailhandel stiegen die Preise zuletzt gar über 12 %. Obwohl die britische Notenbank bereits Ende letzten Jahres und somit recht früh den Zinserhöhungszyklus einläutete, seitdem 5 Zinsschritte zu je 0.25 % durchzog und Anfang August einen weiteren Schritt von 0.5 % unternahm, erweist sich der Preisanstieg im Vereinigten Königreich als äussert hartnäckig und widerspenstig. Ähnlich wie in den USA, wobei dort im Juli immerhin der Höhepunkt überschritten worden sein dürfte. Dieser steht in Grossbritannien erst noch an. Und da es eher unwahrscheinlich ist, dass das Inflationsgespenst genau so rasch wieder vertrieben werden kann, wie es aufgetaucht ist, stehen den Briten sehr schwere Zeiten bevor. Wobei man sagen muss: nicht allen Briten, sondern vor allem denen, die wirtschaftlich ohnehin schon sehr benachteiligt sind.

Eine zunehmende Anzahl Haushalte stöhnt unter den hohen Energie- und Nahrungsmittelpreisen. Die britische Denkfabrik Resolution Foundation kommt in einer jüngst publizierten Studie zum Schluss, dass bis zum Haushaltsjahr 2023/2024 (endet nach dem ersten Quartal 2024) die Armut in Grossbritannien um drei Millionen Menschen zunehmen könnte, falls die Regierung an ihrer bisherigen Politik festhält. In absoluten Zahlen hiesse dies: 14 Millionen leben dann auf «der Insel» in absoluter Armut, das wären mehr als jeder fünfte der 67 Millionen Einwohner. Das mit dem Wording «Wohlstandsverluste» zu verniedlichen grenzt fast schon an Blasphemie.

Dieses von der Resolution Foundation aufgezeigte Szenario scheint mir nicht unrealistisch, denn das Land driftet immer schwerer ins Abseits. Dazu gibt es angelsächsische Banken, die sogar von Inflationsrisiken in Richtung 20 % ausgehen. Wer glaubte, mit dem unrühmlichen Abgang des proletenhaften Premiers Boris Johnsons könnte sich wenigstens ein leichter Richtungswechsel der Politik einspielen, dürfte schwer die Nase gerümpft haben, als klar wurde, wer seine Nachfolge antritt. Es handelt sich dabei um Liz Truss, seit 2021 Aussenministerin im Kabinett Johnson und wenn man die so reden hörte, kann einem nichts Gutes für die Briten schwanen. Die Dame hat offensichtlich die Ambition, zur Neuauflage einer Iron Lady à la Margaret Thatcher zu werden und möchte die britische Wirtschaft einer neoliberalen Rosskur unterziehen. Dazu dürfte sie die Grenzen zwischen Struktur- und Konjunkturpolitik arg verwässern, denn wenn sie damit durchkommt, Steuern zu senken, wird dies im kommenden Jahr den Absturz der britischen Wirtschaft in die Rezession nicht verhindern können.

Wenn es doch «nur» um die Rezession ginge. Das staatliche Gesundheitssystem NHS ist fast am Ende, die Wartezeiten für Behandlungen sind schier endlos. Die Londoner U-Bahn, Eisenbahner, Hafenarbeiter, Strafverteidiger streiken. Zu lange dauert ihnen nun schon die Durststrecke mit teils happigen Reallohnverlusten. An den Flughäfen ist das Chaos ausgebrochen und die Hitzewelle hat das Land völlig ausgedörrt. Den Briten in einer solch misslichen Situation unter die Nase zu reiben, sie sollen sich mehr anstrengen, ist schon sehr sarkastisch, nicht zu sagen fast unverschämt. Der neue kranke Mann Europas dürfte noch eine ganze Weile darniederliegen, auch wenn die populistische «neue» Erzkonservative etwas anderes verspricht. Irgendwie werde ich den Gedanken nicht los, dass sich diese Dame in einer (politischen) Isolation recht wunderbar fühlt – jetzt, da sie die Macht hat, erst recht. (Raiffeisen/mc)

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