Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Zinsenttäuschungen programmiert

Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Zinsenttäuschungen programmiert
Fredy Hasenmaile, Chefökonom von Raiffeisen Schweiz. (Bild: Raiffeisen)

Die Geschenke sind längst weggeräumt, die Truthähne verspeist, das Feuerwerk abgebrannt und die guten Vorsätze stehen bereits auf der Kippe. Das neue Jahr nimmt seinen Lauf. 2024 startet als Jahr der Erwartungen. An der Zinsfront und an den Märkten ist zu Jahresbeginn sehr viel Positives eingepreist. Da sind Enttäuschungen vorprogrammiert. Auch für die Entwicklung an den Börsen.

von Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen

Das heisst, die Wahrscheinlichkeit, dass negative Überraschungen die Kurse drücken, ist höher als die Wahrscheinlichkeit, dass es positive Überraschungen gibt, die die Kurse treiben.

Der Start ins 2024 dürfte daher schwierig werden. In den letzten beiden Monaten sind die Märkte mit ihren Zinserwartungen den Realitäten weit vorausgeeilt. Für dieses Jahr wurden bereits bis zu sechs 25-Basispunkte-Zinssenkungen durch die US-Notenbank (FED) eingepreist, obwohl diese zuletzt nur drei in Aussicht stellte. Von der Europäischen Zentralbank (EZB) wurden fünf Zinssenkungen erwartet. Und auch die Schweizerische Nationalbank sollte gemäss Markterwartungen dieses Jahr dreimal die Zinsschraube lockern. Liegt der Markt richtig, indem er massive und mehrmalige Zinssenkungen der Notenbanken vorwegnimmt? Zweifel sind angebracht.

Erinnern wir uns daran, dass der Markt zu Beginn des letzten Jahres gelinde gesagt erhebliche Mühe hatte, den Zenit der Leitzinsen korrekt vorherzusagen. Im März ging der Markt im Zuge der Regionalbankenkrise in den USA sogar von Zinssenkungen aus und schaffte es erst gegen die Sommermonate hin, den Gipfel der Zinserhöhungen richtig einzuschätzen.

Ausschlaggebend für die jüngste Zinsrally nach unten waren die überraschend starken Rückgänge der Inflation. Per Ende November war die Inflation in den USA gemäss dem von der FED stark beachteten Personal-Consumption-Expenditure-Index auf 2,6 Prozent gesunken, in der Eurozone sank die Inflation sogar auf 2,4 Prozent. Die Gesamtinflationswerte überzeichnen dabei jedoch den zugrundeliegenden Preistrend, der von der Kerninflation besser eingefangen wird. In den USA ist die Kerninflation, welche die Inflation ohne die volatilen Energie- und Lebensmittelpreise misst, im November erst auf 3,4 Prozent gesunken. Auf gleicher Höhe ist im Dezember die Kerninflation in der Eurozone angekommen. Damit besteht noch ein beträchtlicher Abstand zum Inflationsniveau, unter dem FED und EZB Preisstabilität verstehen.

Zwar dürften sich die Inflationsraten in den nächsten Monaten weiter nach unten bewegen, aber nicht mehr im gleichen Tempo. Einer der Faktoren, die die Zinsrally nach unten begleitet haben, dürfte künftig wegfallen: die Entwicklung des Ölpreises. Dieser ist trotz dem Krieg im Nahen Osten, der kurzzeitig für einen Anstieg sorgte, auf unter 80 USD pro Fass Brent-Öl gesunken, scheint dort nun aber seinen Talboden erreicht zu haben.

Neben auslaufenden Basiseffekten der Energiepreisteuerung sorgt auch der Wegfall von energie- und inflationsbezogenen Ausgleichsmassnahmen dazu, dass sich die Gesamtinflation in den kommenden Monaten langsamer zurückbilden dürfte.

Ein zweiter Faktor, der die Normalisierung der Preisdynamik bremsen dürfte, ist das erhöhte Lohnwachstum. Nicht nur haben die jüngsten Arbeitsmarktdaten die robuste Verfassung der US-Wirtschaft bestätigt, der hohe Arbeitskräftebedarf hält auch die hohe Lohndynamik aufrecht. Das Wachstum der durchschnittlichen US-Stundenlöhne fiel zum Jahresende mit 0,4 Prozent gegenüber dem Vormonat, oder annualisiert 5,4 Prozent, wieder höher aus als in den Vormonaten. In der Eurozone lag das nominale Lohnwachstum im Novem-ber bei ebenfalls hohen 3,8 Prozent.

Aus der Inflationsperspektive handelt es sich dabei um «ungesunde» Lohnerhöhungen, da sie die Lohnkosten der Unternehmen übermässig erhöhen und diese dazu zwingen, ihre Produkt- und Dienstleistungspreise weiter anzuheben. Damit heizen sie die Inflation erneut an. Ersichtlich ist das an den Verkaufspreiserwartungen im Dienstleistungssektor, die in den USA und auch in der Eurozone gegen Jahresende wieder auf höhere und überdurchschnittliche Preissteigerungen hindeuten.

Wie lange die Währungshüter ihre Leitzinsen auf dem aktuellen Niveau halten werden, ist eine breit diskutierte Frage. Indem sie die Leitzinsen später und weniger hoch steigen liessen als zum Beispiel die viel beachtete Taylor-Regel verlangen würde, wollten sie dafür die Leitzinsen länger auf dem erreichten Niveau behalten. Bei der Taylor-Regel handelt es sich um eine vereinfachte Regel zur Festsetzung des kurzfristigen Zinssatzes der Geldpolitik. Sie hat sich trotz ihrer Einfachheit als eine brauchbare Faustregel erwiesen. Noch tönt das «Höher für länger»-Mantra, das beide Zentralbanken wiederholt vertreten haben, in unseren Ohren. In der Tat beendeten beide Zentralbanken ihren Zinserhöhungsrhythmus etwa 100 Basispunkte tiefer, als die Taylor-Regel empfehlen würde. Entsprechend plädierten beide Zentralbanken dafür, das Zinsniveau lange genug aufrechtzuerhalten, um die Inflation wieder auf das Zielniveau zurückzuführen.

Hintergrund dieser Absicht dürfte zwar weniger die Taylor-Regel sein als die Erfahrungen aus den 1970er-Jahren, als man die Zinsen zu früh gelockert hatte. Mit der rasch sinkenden Inflation reduzieren sich aber auch die Vorgaben der Taylor-Regel, so dass die Aussagen der beiden Zentralbanken bald schon einem Glaubwürdigkeitstest unterzogen werden. Historisch betrachtet waren Zinsplateaus eher die Ausnahme als die Regel. Zudem hat jüngst der amerikanische Fed-Präsident den Verweis auf die 1970er-Jahre nicht mehr wiederholt. Entsprechend gehen wir in unserem Basisszenario auch von einer Lockerung der Leitzinsen im laufenden Jahr aus, aber in einem deutlich geringeren Tempo, als die Märkte Anfang Jahr eingepreist haben. Wir erwarten je drei Leitzinssatzsenkungen der FED und der EZB bis Jahresende und nur gerade eine Senkung der SNB. Da die Zinsen in der Schweiz deutlich weniger stark erhöht werden mussten, kann die Schweizerische Nationalbank ihre Geldpolitik einiges entspannter steuern. Es gibt zwar mehrere verzögerte administrierte Preisanhebungen. Abgesehen davon weisen zahlreiche andere Preiskategorien aber wieder eine langsamere Gangart auf. Trotz der Mehrwertsteuer-Erhöhung wollen die Schweizer Unternehmen die Preise rund um den Jahreswechsel nur moderat anheben.

Damit zeichnen wir ein Szenario, das uns konsistenter erscheint als das Bild, das die Märkte zu Jahresbeginn eingepreist haben. Eine klare Mehrheit der Ökonomen ging nämlich von einer sanften Landung der globalen Wirtschaft aus und einem entsprechend hohen Gewinnwachstum der Unternehmen. Gleichzeitig implizierten – wie oben erwähnt – die Zinsfutures aber Leitzinssenkungen in einem Ausmass, wie sie wohl nur bei einer Rezession oder bei grösseren Verwerfungen an den Finanzmärkten in Frage kämen. Der Markt lag demnach entweder bei seinem Konjunkturausblick oder beim Zinsausblick falsch. Die jüngsten Zinsbewegungen in den ersten Januartagen lassen darauf schliessen, dass der Markt aktuell daran ist, seine Zinserwartungen einem realistischeren Bild anzunähern. (Raiffeisen/mc/pg)

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