Meret Schneider: Demokratie und das falsche Versprechen von Facebook

Man studiert ja so einiges als junge, leicht übermotivierte Person nach der Matur, die in der Universität das Tor zur Welt zu sehen glaubt. Ich beispielsweise Linguistik, Umweltwissenschaften, Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Kann man machen, muss man aber nicht. Dennoch lohnt es sich immer einmal wieder, einen Blick auf die Theoretiker der Kommunikationswissenschaften zu werfen – ich beispielsweise beim Entstauben der Bücherregale (Sommerferien, es regnet). Dabei stiess ich auf eine Studie von David Manning White (1950), in der er das Phänomen des Gatekeepings untersuchte.
Mit dem Gatekeeping wird die publizistische Wirkungsweise der Massenmedien im Sinne einer Torwächterfunktion beschrieben. Es bezeichnet die Entscheidung, welche Ereignisse ausgewählt und dem Publikum präsentiert, welche Informationen also durchgelassen werden und welche nicht. Der klassische Journalist fungiert dabei als «Torwächter», indem er Themen und Nachrichten aufgreift, beschreibt, framt oder eben ignoriert. White untersuchte, welche Eigenschaften eines Journalisten aber auch welche Faktoren in Redaktionen zu welcher Nachrichtenauswahl führen bzw. welche ausserindividuellen Faktoren mit in den Gatekeeping-Prozess einfliessen (Platzmangel, Zeitnot, Geld, Einstellung der Redaktion etc.). Diesen Gatekeepern wurde in der Folge viel Gewicht beigemessen, da sie wesentlichen Einfluss auf den öffentlichen Diskurs ausübten und mitbestimmten, was öffentlich debattiert und Teil des öffentlichen Bewusstseins wird.
Und dann kam das Internet. Mit dem Aufkommen des Internets, insbesondere dessen kollaborativer Anwendungen wie Online-Foren und soziale Plattformen, würde die Gatekeeper-Funktion in ihrer Wirkung zunehmend ausser Kraft gesetzt – so die Theoretiker (kein Gendern notwendig). Jede und jeder kann nun senden, publizieren und bloggen – jede und jeder kann mitdiskutieren, wurde von Techoptimisten gejubelt. Auch Facebook wurde zunächst einmal als deliberative Plattform gelobt, ohne die ein arabischer Frühling (der in der Rückschau noch einmal anders bewertet werden muss) nie möglich gewesen wäre. Nun ist es allen Menschen mit Internetzugang möglich, sich zu vernetzen, zu verbinden, Informationen zu tauschen, ohne die Information erst an den eisernen Pforten einer Redaktion vorbeischleusen zu müssen.
Auch anderen sozialen Plattformen begegnete man erst mit viel Optimismus in Bezug auf deren demokratisches Potenzial: Sie schienen Raum für einen öffentlichen Diskurs ohne räumliche Grenzen zu schaffen, einen internationalen und interkulturellen Austausch, in dem jede und jeder gleichberechtigt zu Wort kommt. Die Desillusionierung folgte postwendend: Es folgte ein massiver Qualitätsverlust des öffentlichen politischen Diskurses in demokratischen Gesellschaften, auch und gerade befeuert durch die sozialen Medien. Die rapide Ausbreitung von Falschmeldungen, Desinformation, Fake News und Verschwörungstheorien führten zu einer zunehmenden Polarisierung und Fragmentierung der politischen Gemeinschaft.
Grund dafür ist unter anderem das Geschäftsmodell der Social-Media-Plattformen, das darauf basiert, die Nutzerinnen und Nutzer durch Datenerfassung und algorithmische Personalisierung möglichst eng an sich zu binden, wie Christina Lafont in einem Artikel auf “Aus Politik und Zeitgeschichte” schreibt. Dieses Modell hat zwei problematische Eigenschaften: Zum einen erleichtert die Vorauswahl der Inhalte aufgrund früherer Vorlieben der Nutzer die Bildung von Filterblasen und Echokammern – mit der Folge, dass diejenigen, die sich in erster Linie auf Social Media verlassen, so gut wie nie Informationen, Nachrichten oder Meinungen erhalten, die von ihrem Weltbild abweichen. Zum anderen verbreiten sich Inhalte in den sozialen Medien auf Grundlage von Algorithmen, die nicht auf den Wahrheitsgehalt abzielen, sondern auf eine maximale Nutzerbindung. Die Adressaten können oft gar nicht erkennen, ob die Meldungen in ihren Feeds zutreffen oder nicht, ob sie die Ansichten ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger oder von Trollen aus dem Ausland repräsentieren und ob sie von einer zuverlässigen Quelle oder einem Online-Bot mit Fake Account stammen.
Diese Merkmale von Social Media verstärken nicht nur die Isolierung einzelner Gruppen und die Fragmentierung und Polarisierung der Gesellschaft, sondern fördern auch die Verbreitung von Fehlinformationen, Fake News und Verschwörungstheorien sowie die Manipulation von Wählerinnen und Wählern durch Micro-Targeting. Zusätzlich zu diesen bedrohlichen Entwicklungen erleben wir einen Bedeutungsverlust der traditionellen Medien, die idealerweise nach journalistischen Kriterien wie Unparteilichkeit, Wahrhaftigkeit und Verantwortlichkeit arbeiten, so Lafont.
Deliberatives Potenzial? Weit gefehlt. Im Gegenteil: Durch das Oligopol, dominiert von einigen wenigen Techgiganten der (Des-)Informationsindustrie, namentlich X, Meta, Tiktok, hat sich die Zahl der Gatekeeper von früher diversen Zeitungen und TV-Redaktionen auf eine Handvoll Techgiganten reduziert, die den Diskurs massgeblich bestimmen – und dies nach komplett intransparenten Kriterien. Wir haben also nicht etwa die früheren Gatekeeper entmachtet, sondern die Macht hin zu einigen wenigen Techoligarchen verschoben, die nun bestimmen, was uns angezeigt wird, welche Informationen uns erreichen oder eben nicht. Und damit bin ich, einmal mehr, bei meinem ceterum censeo: Es braucht eine Regulierung der sozialen Plattformen. Der Bundesrat verspricht sie seit über einem Jahr – es ist nun Zeit, den Worten Taten folgen zu lassen.
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