Robert, was steht denn da?

Robert, was steht denn da?
Titelblatt des Manuskripts zur Sammlung «Seeland» von Robert Walser. (Foto: Robert Walser-Stiftung Bern)

Text: Noëmi Kern, Universität Basel

Lesen wir ein Buch, fragen wir uns kaum, wie der Text zustande gekommen ist und ob er noch der Originalfassung entspricht. Im Rahmen textkritischer Ausgaben machen sich Editoren darüber Gedanken. Derzeit widmen sich Basler Forschende dem Gesamtwerk des Schweizer Autors Robert Walser.

Der Germanist hat darin jahrelange Erfahrung als Mitarbeiter an der Kritischen Robert-Walser-Ausgabe (KWA), die sich in der Entstehung befindet – seit 2007! Das vom Schweizerischen Nationalfonds SNF unterstützte Projekt der Universitäten Basel und Zürich widmet sich dem literarischen Schaffen des Schweizer Schriftstellers Robert Walser (1878 –1956). Ein Begriff ist er vielen am ehesten wegen seiner Romane «Geschwister Tanner», «Der Gehülfe» und «Jakob von Gunten». Sie machen allerdings nur einen sehr kleinen Teil seines Werks aus. Es reicht von Prosa über Lyrik bis zu kurzen szenischen Darstellungen, sogenannte Dramoletten. «Zu Lebzeiten kannten ihn die Leute vor allem auch als Autor von Beitragen in verschiedenen Zeitschriften – von Berlin über Zürich und Wien bis Prag. Kurzprosa war seine Paradedisziplin», weiss Sprünglin. Er war in den Feuilletons im gesamten deutschsprachigen Raum vertreten.

Die KWA vereint, was von Robert Walsers Schriften noch vorhanden ist, darunter einiges, das bisher nie in einem Konvolut veröffentlicht wurde. Neue Wege geht man dabei in der Zusammenstellung von Walsers Texten, die in Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind: Die einzelnen Artikel sind sortiert nach Zeitung respektive Zeitschrift – und darin wiederum nach Veröffentlichungsdatum. Matthias Sprünglin erklärt: «Dadurch kann man nachvollziehen, wie und wann Walser zu einer Zeitschrift kam und wie sich die Beziehung zu ihr entwickelte.» Insbesondere die Weltkriege beeinflussten das europaweite publizistische Netzwerk Walsers massgeblich und zerstörten es letztendlich.

Philologische Grundlagenarbeit
Bis Ende September ist die Hälfte der Edition erschienen, die rund 50 Bände umfassen wird. Das Projekt soll 2032 abgeschlossen sein.

Die bisher massgebliche Ausgabe von Robert Walser stammt von Jochen Greven. Sie modernisiert die Rechtschreibung auf den Stand von 1970 und weist nicht nach, wo sie den Text berichtigt oder auf andere Textzeugen wie Manuskripte oder andere Auflagen zurückgreift. Weil er diese sogenannten Emendationen nicht deklarierte, sind Grevens Eingriffe für die Leser nicht nachvollziehbar und es bleibt unklar, wie der gegebene Text zustande kommt. Dennoch: «Greven hat gute und wichtige Arbeit geleistet. Unsere Ausgabe gäbe es ohne die seinigen nicht.» Die wichtige Vorarbeit im Bereich der Mikrogramme leisteten Werner Morlang und Bernd Echte: Sie entzifferten in ihrer Ausgabe «Aus dem Bleistiftgebiet» erstmals einen grösseren Teil der Mikrogramme.

Ziel der KWA-Herausgeber ist es, einen authentischen Text zu rekonstruieren und Rechenschaft darüber abzulegen, worauf er basiert und wie er hergestellt wurde – aufgrund des vorhandenen Materials. Biografisches interessiert die Editoren nur, soweit es für die Werkentstehung und -überlieferung von Bedeutung ist.

«Die Schrift ist bisweilen so abstrakt, dass man nicht mehr von Buchstaben reden kann.»

Neben der Textsicherung geht es darum, Robert Walsers Schreibprozess nachvollziehbar zu machen. Matthias Sprünglins Begeisterung und Faszination ist spürbar, wenn er sagt: «Die sogenannten Mikrogramme sind ein regelrechtes Entwurfsuniversum.» Walser notierte sie mit Bleistift auf verschiedene Papiere. «Die Schrift ist bisweilen so abstrakt, dass man nicht mehr von Buchstaben reden kann. Vielmehr sind es Silben, Schrift- und Wortbilder, die auch für geübte Leser nicht immer eindeutig zu entziffern sind.» Anhand der Transkriptionen kann aber auch ein Laie nachvollziehen, was auf den Blättern steht.

Die Mikrogramme schrieb Walser zu fertigen Texten ab, ein zweistufiges Verfahren der Textgenese. Diesen Blick in Walsers Schreibwerkstatt macht die KWA zuganglich. Eine weitere Dimension der Mikrogramme ergibt sich aus den unterschiedlichen Textträgern. Walser schrieb sie zum Beispiel auf einen zerschnittenen Kalender oder einen Honorar-Beleg des «Berliner Tagblatts». Diese Blattzusammenhänge sind in der KWA erstmals rekonstruiert. «Dadurch ergeben sich interessante Beziehungen zwischen den Texten», so Sprünglin.

Vorteile der Digitalisierung
Für die Darstellung solcher und anderer textkritischer Erkenntnisse bietet die Digitalisierung Vorteile. So lassen sich beispielsweise die digitalisierten Mikrogramme vergrössern und in eine Beziehung zur Umschrift setzen. Zudem entwickeln sich die digitalen Darstellungsformen laufend weiter. «Der zweite grosse Vorteil ist die Volltextsuche, die eine andere Herangehensweise an das Gesamtwerk erlaubt», so Matthias Sprünglin, der nicht nur Germanist, sondern auch Informatiker ist.

Die rasche Weiterentwicklung von digitalen Formaten hat aber auch ihre Tücken. Es verändern sich etwa die Möglichkeiten zur Datenspeicherung. «Als wir mit der KWA angefangen haben, brannten wir die Daten auf eine DVD. Das würde man heute nicht mehr machen», erinnert sich der Forscher. Es ist also nicht so einfach, für die Archivierung Formate zu wählen, die sich langfristig bewahren. «Was die Zukunft bringt, wissen wir nicht. Aber wir machen, was wir können», beteuert er.

Beim Druck ist die Langlebigkeit einfacher: Die Bücher der KWA werden auf säurefreies Archivpapier gedruckt. Man wird sie auch in 300 bis 400 Jahren noch lesen können. «Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass so schnell niemand mehr eine Gesamtausgabe von Robert Walser in dieser Gründlichkeit machen wird und dass wir die Grundlagen legen müssen für viele Jahre», sagt Matthias Sprünglin. Das sei eine grosse Verantwortung.
Edition ist etwas Grundlegendes

Verantwortung übernehmen sei ohnehin wichtig beim Edieren: Wählt man zum Beispiel bei Robert Walsers «Gedichten» den Erstdruck von 1909 oder den leicht veränderten Druck von 1919 als Textgrundlage, entscheidet man, welche Fassung man für authentischer hält. Das beeinflusst die zukünftige Rezeption der Gedichte nachhaltig, ohne dass man letztendlich beweisen kann, dass man die richtige Grundlage gewählt hat. «Der Leser muss sich am Ende auf den Herausgeber verlassen können.» Dieses Bewusstsein will Matthias Sprünglin weitergeben. Im laufenden Herbstsemester hält er erstmals ein Seminar zum Edieren von Robert Walser. «Es geht mir dabei einerseits darum, dass wir nicht nur im stillen Kämmerlein über den Texten brüten, sondern unser Schaffen nach aussen tragen, mit anderen darüber sprechen und uns immer wieder kritisch mit dem eigenen Tun auseinandersetzen.»

«Er hat eine Überlieferungsgeschichte, für die man sich nicht nicht interessieren kann, wenn man sich für den Text selber interessiert.»

Andererseits findet er, dass sich alle, die Literaturwissenschaft betreiben wollen, mit der Thematik der Textkritik auseinandersetzen sollten. Ein Text sei schliesslich nicht einfach da. «Er hat eine Überlieferungsgeschichte, für die man sich nicht nicht interessieren kann, wenn man sich für den Text selber interessiert», findet er. Textkritik reflektiere diesen Prozess und mache ihn besser nachvollziehbar. Sie sei damit eine wichtige Basis für literaturwissenschaftliches Arbeiten.

Matthias Sprünglin will dazu motivieren, genau hinzuschauen und kritisch mit Texten umzugehen. Und ein bisschen hofft er auch, dass er die Freude und Faszination am textkritischen Arbeiten vermitteln und für Nachwuchs-Editoren sorgen kann. Damit auch künftig Menschen stundenlang über einem Text brüten und genau wissen wollen, wie er entstanden Ist. (Universität Basel/mc/ps)

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