Seltene Muskelkrankheit: Seehund hilft Lama

Seltene Muskelkrankheit: Seehund hilft Lama
Bei einer LAMA2-Muskeldystrophie fehlt den Muskelzellen ein stabilisierender Faktor. Forschende haben eine vielversprechende Gentherapie entwickelt, um Abhilfe zu schaffen. (Symbolbild: Adobe Stock / Unibas)

Basel – Der Diagnose folgt Verzweiflung, dann vielleicht doch Hoffnung: Wenn Eltern eines Kindes mit der genetisch bedingten LAMA2-Muskeldystrophie im Internet suchen, stossen sie unter anderem auf SEAL Therapeutics, ein Startup der Universität Basel. Was nach dem englischen Wort für Seehund klingt, ist eine Gentherapie, die dereinst die Überlebenschancen betroffener Kinder deutlich verbessern könnte.

Im Schnitt alle eineinhalb Jahre kommt in der Schweiz ein Kind mit einem Gendefekt auf die Welt, der die Stabilität seiner Muskelfasern beeinträchtigt. Auffällig wird das schon nach der Geburt: Betroffene Kinder haben kaum Körperspannung. Im Laufe der Zeit schwinden ihre Muskeln zusehends. Auch die Atemmuskulatur ist davon betroffen. In den schwersten Fällen erreichen diese Kinder kaum das Erwachsenenalter.

Wirksame Therapien gibt es gegen die seltene LAMA2-Muskeldystrophie bisher nicht. Eltern betroffener Kinder engagieren sich in Patientenorganisationen, um Gelder für die Forschung an Therapieansätzen zu sammeln. «Dieser Einsatz – neben den Herausforderungen, die die Erkrankung des Kindes mit sich bringt – hat mich sehr beeindruckt. Die Seltenheit der Krankheit erzeugt ein Wir-Gefühl, das auch uns Forschende mitreisst», berichtet Dr. Judith Reinhard, die durch ihre Forschung zusammen mit Prof. Dr. Markus Rüegg am Biozentrum der Universität Basel in Kontakt mit Betroffenen und Angehörigen steht.

Grundlagenforschung und eine zündende Idee
Ihren Anfang nahm ihre Forschung vor mehr als 20 Jahren allerdings weit entfernt von Patientenkontakten: Rüegg und sein Forschungsteam ergründen die Funktion von Muskeln, genauer gesagt die Rolle von bestimmten Molekülen in den Verbindungen zwischen Nerven und Muskeln. Eines der erforschten Proteine, Agrin genannt, zeigte eine interessante Eigenschaft: Es kann ausgezeichnet an Proteine auf der Oberfläche von Muskelzellen binden.

Was das mit der LAMA2-Muskeldystrophie zu tun hat? LAMA2 steht für den Namen eine Gens, welches für das Laminin-α2-Protein kodiert und bei Betroffenen defekt ist. Laminin-α2 ist ein essentieller «Anker», der die Muskelzellen mit der sogenannten extrazellulären Matrix, dem «Kitt» zwischen den Zellen, verbindet und ihnen Stabilität verleiht. Den Forschenden am Biozentrum kam eine hoffnungsvolle Idee: Vielleicht könnte man Bestandteile von Agrin verwenden, um diesen Anker zu ersetzen?

Heute, rund zwei Jahrzehnte später: Dem Team um Markus Rüegg und Judith Reinhard ist es gelungen, eine mögliche Gentherapie zu entwickeln, die einen optimierten Agrin-Bestandteil und ein zweites Ersatzprotein als Anker in die Muskeln einschleust. Dass es so lange gedauert hat, liegt vor allem daran, dass die passenden Methoden fehlten, um Gentherapien zu verabreichen. Inzwischen sind solche Methoden verfügbar: Als Vehikel für die zwei Ersatzproteine, beziehungsweise die Baupläne dafür, dienen modifizierte Viren.

Die Ergebnisse aus Versuchen mit Mäusen sind vielversprechend, berichtet Markus Rüegg: «Wenn Kliniker die Muskelschnitte von Mäusen mit dem LAMA2-Gendefekt sehen, einmal ohne, einmal mit unserer Gentherapie, sind sie hin und weg.» Die Tiere, die kurz nach der Geburt die Gentherapie erhalten, zeigen im weiteren Verlauf stabileres Muskelgewebe, eine stark verbesserte Muskelmasse und -spannung, können sich besser bewegen und erreichen ein höheres Alter.

Engagierte Eltern
Ermöglicht haben diese Forschung zu einem grossen Teil die Patientenorganisationen in den USA und Europa. Dank der durch sie bereitgestellten Finanzierung sprechen die Basler Forschenden regelmässig an Konferenzen, an denen sich nicht nur Wissenschaftlerinnen und Kliniker, sondern vor allem auch betroffene Familien austauschen.

Sie habe sich zunächst vor dem Kontakt mit Betroffenen und Angehörigen gescheut, erinnert sich Judith Reinhard. Als Grundlagenforscherin in der Biologie standen Patientenkontakte nicht auf ihrem Karriereplan. Heute spricht sie mit Hochachtung von den Eltern, die sie getroffen hat und die sich mit Elan für die Erforschung der Krankheit und Entwicklung einer Therapie einsetzen, auch wenn in einigen Fällen die Ergebnisse für ihr eigenes Kind möglicherweise zu spät kommen werden.

Das Projekt in Zusammenarbeit mit Forschenden der Rutgers University im US-Bundesstaat New Jersey ist inzwischen im Start-up SEAL Therapeutics zusammengefasst. SEAL steht für Simultaneous Expression of Artificial Linkers (SEAL), nimmt aber auch Bezug auf das englische Verb «to seal» für abdichten. Das Unternehmen hält sämtliche Patente, was die Weiterentwicklung der Gentherapie für die klinische Anwendung stark vereinfacht.

Pharmapartner gesucht
Derzeit bereiten die Forschenden ihre bisherigen Daten auf, um die Diskussion mit Zulassungsbehörden anzustossen und zu erfragen, was genau es für die klinische Weiterentwicklung und Zulassung brauchen wird. Daneben führen sie Gespräche mit Pharmaunternehmen, die auf Gentherapien spezialisiert sind, um eine Zusammenarbeit aufzugleisen.

Zwar müssen klinische Studien im Falle seltener Erkrankungen nicht die gleiche Mindestanzahl von Patientinnen und Patienten erfüllen wie bei anderen Medikamenten, trotzdem ist aber Geduld gefragt. Die Entwicklung bis hin zur Klinik braucht Zeit, die Eltern und heute betroffene Kinder nicht haben. «Wenn Eltern die Diagnose erhalten und im Internet recherchieren, stossen sie auf unsere Forschung und schreiben uns E-Mails, wo sie die Behandlung für ihr Kind bekommen können», erzählt Rüegg. «Sie brauchen die Therapie für ihr Kind sofort, und wir müssen sie leider vertrösten.»

Gentherapien hätten in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Fortschritte und Rückschläge erlebt. «Aber ich bin zuversichtlich, dass wir in den nächsten Jahren die technischen Probleme lösen werden», so Rüegg. Zumindest für die nächste Generation betroffener Kinder besteht damit Grund zur Hoffnung, dass diese mögliche Therapie in der Klinik getestet werden kann. (Universität Basel/mc/ps)

Patientenorganisationen

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