Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Das unheimliche Experiment

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Das unheimliche Experiment
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Huhn oder Ei, diese Frage beschäftigt die Menschheit schon eine Ewigkeit und wir dürften wohl nie eine Antwort darauf finden, was denn nun zuerst da war. Noch nicht ganz so lange, aber doch auch schon eine zumindest gefühlte Ewigkeit ist es her, dass die Schweizerische Nationalbank und die EZB die Zinsen in die Minuszone drückten. Auch hier stellt sich die Frage, was zuerst da war – Nullteuerung oder Nullzins?  

Die Gewöhnungsphase, selbst an die Negativzone, liegt offenbar bereits hinter uns. Zunehmend fragen sich jedoch viele, ob diese Therapie glückt oder ob die Behandlung vielleicht gar nie mehr endet. Natürlich kann das niemand so genau sagen, doch gibt es immer mehr – und dazu noch mehr oder weniger renommierte – Stimmen, die davon ausgehen, dass die Zinsen dauerhaft tief bleiben werden. Müssen wir uns tatsächlich daran gewöhnen, dass Geld auch in ferner Zukunft nichts mehr kostet, weil es in Unmengen zur Verfügung steht?

Neue Wortschöpfung: „Verwahrentgelt“
Ausgeschlossen ist das jedenfalls nicht mehr. Doch dieses beispiellose Experiment entfaltet immer mehr unerwünschte Nebenwirkungen. An den Bond- und Aktienmärkten haben sich mächtige Blasen gebildet, Immobilien sind so hoch bewertet wie nie zuvor in ihrer Geschichte, das Rentensystem gerät aus dem Gleichgewicht und nicht mehr nur öffentliche Schuldner nehmen Geld auf und erhalten Zins dafür. Inzwischen tun dies auch private Unternehmungen. Ob auch bescheidene Ersparnisse Privater bald negativ verzinst werden, ist ganz und gar nicht mehr ausgeschlossen. Die Alternative Bank (ABS) in der Schweiz hat diesen Pfad bereits letzten Oktober beschritten. Andere Finanzinstitute halten sich zwar noch zurück. Doch auch in der Schweiz ist die diesbezügliche Diskussion längst lanciert, nachdem Institutionelle und Firmen bereits seit längerem „Strafzinsen“ bezahlen müssen. In Deutschland schlägt der Negativzins nun ebenso auf private Kunden durch. Eine kleine Bank in Bayern verlangt ab September selbst von Privatkunden Zinsen für deren Ersparnisse, wenn diese 100‘000 Euro übersteigen. Die Raiffeisenbank Gmund am Tegernsee, nennt dies „Verwahr-Entgelt“, das immerhin 0.4% beträgt.

Nach Wachstum auf Pump, Wachstum um jeden Preis
Um jeden Preis scheint Mario Draghi der europäischen Wirtschaft neuen Wachstumsgeist einhauchen zu wollen, worunter auch die Schweiz leidet, denn es bleibt den Geldhütern hierzulande nichts anderes übrig, als mitzuziehen. So lautet zumindest deren Credo. So paradox es klingen mag, die Geldpolitik sehnt sich nichts mehr herbei als das Inflationsgespenst. Was im vorigen Jahrhundert noch so gefürchtet war, soll nun der Wirtschaft wieder Schwung verleihen. Diese Übung ist jedoch zum Scheitern verurteilt. Inflation ist nur das Alibi der lockeren Geldpolitik, die es noch nie schaffte, ein Inflationsziel in nützlicher Frist zu erreichen. Im Grunde fungiert die Geldpolitik mehr und mehr als Bewahrer maroder Strukturen und des Systems von Wachstum auf Pump. Staaten und vor allem Banken werden so künstlich am Leben gehalten. Doch wer im Geld schwimmt, geht bekanntlich recht verschwenderisch damit um. Lockerung heisst folglich weniger sorgsamer Umgang. Staaten spüren keinen Sparzwang mehr, da die EZB das Gratisgeld ohne Rücksicht auf Verluste in den Wirtschaftskreislauf pumpen möchte, die Banken geben es an fast jeden weiter. So droht nur noch mehr Ungemach. Bleibt das Geld nicht mehr im maroden Bankenapparat stecken, gerät es nur noch mehr auf Abwege. In Europa ist wieder eine äussert laxe Kreditsprechung im Gang, ähnlich wie in den USA vor rund zehn Jahren, mit bekanntem Ausgang.

Nachhaltig satt
Das Problem liegt ganz woanders, namentlich in der Demographie und in den riesigen Produktivitätsfortschritten. Diese drücken sowohl auf Wachstum als auch auf die Preise. Viele wollen nicht immer mehr konsumieren, denn ihre Konsumneigung nimmt ab, eine Logik des fortgeschrittenen Alters. Andere wollten sehr wohl mehr konsumieren, etwa die jungen Arbeitslosen in der europäischen Peripherie, doch da führt die gestiegene Produktivität zu einer zunehmen-den Substitution teurer Arbeitsstunden durch günstige Maschinen. Die Digitalisierung wird diesen Prozess wahrscheinlich noch beschleunigen. Sättigung ist aber ein Wort, das maximal in der Mikroökonomie salonreif ist. In einer demokratischen Volkswirtschaft wird Sättigung als eine riesige Gefahr empfunden, insbesondere die Exekutive sieht dies so. Nur wer Geschenke verteilt, erringt auch Mehrheiten bei Wahlen. Aber die etablierten Parteien verlieren zusehends, wohl auch weil viele spüren, dass nun ihre Ersparnisse dran sind, damit die Politik weiter Versprechungen machen kann. Nachhaltig ist allerdings anders.  (Raiffeisen/mc/ps)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert