Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Singen die Kanarienvögel noch?

Die Schlagzeilen der vergangenen Woche haben es in sich. In den USA können sich die führenden Parteien nicht auf ein Haushaltsbudget einigen, was die Schliessung der Regierungsgeschäfte zur Folge hatte. In Frankreich hat innerhalb von zwei Jahren der fünfte Premierminister das Handtuch geworfen, weil es ihm nicht gelang, das Haushaltsdefizit unter die Marke von 5% zu drücken. Und in Japan wird mit Sanae Takaichi eine ausgabenfreudige Politikerin voraussichtlich die nächste Regierungschefin, die die roten Haushaltszahlen mit Nonchalance behandelt. Doch das könnte bald schwieriger werden. Gold, der untrügliche Seismograf für die Nervosität der Anleger, hat unlängst die Schwelle von USD 4000 durchbrochen – nach einem Anstieg von 53% allein im laufenden Jahr.
von Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen
Ungebremste Schuldenmacherei
Der Höhenflug des Goldpreises spiegelt das wachsende Misstrauen der Investoren gegenüber den Papierwährungen wider. Die hohen Bewertungen von Sachanlagen wie zum Beispiel Gold sind bloss die Kehrseite der Entwertung von Papiergeld. Die Skepsis ist berechtigt. Grosse Volkswirtschaften wie die USA, China, Frankreich oder das Vereinigte Königreich schreiben Haushaltsdefizite von über 5% – ohne Aussichten auf Besserung. Finanziert werden die Lücken mit immer neuen Schulden. In den USA vermögen nicht einmal die substanziellen Zolleinnahmen die Haushaltslöcher zu stopfen. China gelingt es trotz vielfältiger Massnahmen nicht, die Wirtschaft nachhaltig zu stabilisieren, und in Frankreich fehlt jegliche politische Einsicht in Bezug auf die Unhaltbarkeit der gegenwärtigen Ausgabenpolitik. Die Schuldenstände dieser Staaten wachsen daher bedrohlich.
Bei den Renditen 10-jähriger Staatsanleihen hat die Unsicherheit zwar noch nicht allzu viele Spuren hinterlassen. Bei den Renditen von Staatsanleihen mit längeren Laufzeiten jedoch schon. So sind die Renditedifferenzen zwischen 30- und 10-jährigen Staatsanleihen in Japan innerhalb eines Jahres um über 110 Basispunkte angestiegen; ähnlich stark im Vereinigten Königreich und nur unwesentlich weniger in Frankreich oder in den USA. Wie einst die Kanarienvögel die Bergwerkmitarbeiter in den Gruben vor giftigen Gasen warnten, sind die Renditen der Langläufer die Warnlampen der Finanzmärkte.
Zentralbanken als stille Komplizen
Die Unfähigkeit dieser Länder, eine verantwortungsvolle Finanzpolitik zu betreiben, wird immer offensichtlicher. Anleger beginnen zu zweifeln, ob es überhaupt noch einen Ausweg aus der Schuldenfalle gibt. Entsprechend verlangen sie höhere Risikoprämien – was die Finanzierung der hohen Schulden zusätzlich verteuert und das Problem der Haushaltsdefizite noch verschärft. Verschiedene Systemfehler haben diese Entwicklung begünstigt. Führende Zentralbanken haben die Ausgabe von Staatsanleihen erleichtert, indem sie diese massenhaft auf dem Sekundärmarkt erwarben. Das erlaubte den Regierungen, mehr Schuldtitel als unter normalen Umständen zu platzieren und damit im Endeffekt mehr auszugeben.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hält beispielsweise mehr als ein Drittel aller europäischen Staatsanleihen in ihrer Bilanz und ist damit die grösste Gläubigerin der Mitgliedstaaten. Wie kommt es, dass die EZB, der die monetäre Staatsfinanzierung verboten ist, einen solch hohen Anteil der Schulden in ihren Büchern hält? In Japan besitzt die Bank of Japan (BOJ) sogar die Mehrheit aller ausstehenden Staatsanleihen. Ob man bei solchen Werten noch von «unabhängigen» Zentralbanken sprechen darf, ist höchst fragwürdig.
Falsche Risikogewichte von Staatsanleihen
Fragezeichen provoziert auch die Bestimmung, dass die Banken in den EU-Ländern die Staatsanleihen in ihren Büchern mit keinerlei Eigenkapital hinterlegen müssen. Staatspapiere werden damit regulatorisch als quasi risikolos betrachtet, was sie de facto natürlich nicht sind. Dank dieses Eigenkapitalprivilegs absorbieren europäische Banken mehr Staatsanleihen und erleichtern dadurch diesen Ländern die Ausgabe von Schuldpapieren. Ein internationales Reformvorhaben unter dem Namen Basel III wollte dieses Privileg abschaffen, doch wichtige Finanzplätze wie die USA, Grossbritannien und die EU haben die Umsetzung aufgeschoben.
Gold als Fieberthermometer der Finanzwelt
Auch der Rekordlauf von Gold ist ein klares Warnsignal. Seit jeher dient Gold in turbulenten Zeiten als sicherer Hafen. Dass Gold als klassische Krisenwährung dient, hat einen zentralen Grund: Es gilt als wertbeständig. Und die Wertbeständigkeit des Edelmetalls rührt daher, dass es ein begrenztes Gut ist – anders als Geld. Nationalbanken können die Geldmenge theoretisch unbegrenzt ausweiten, und damit den Wert ihrer Währungen untergraben. Das Angebot von Gold hingegen wächst nur um 1% bis 2% pro Jahr – so viel, wie in den Minen jeweils geschürft wird. Je stärker also die Schulden steigen, desto attraktiver wird Gold als Ausdruck des Misstrauens gegenüber den jeweiligen Währungen.
Anleger müssen sich auf Turbulenzen einstellen
Wie sich die globale Verschuldungskrise weiterentwickelt, bleibt offen. Die Politik scheint in den genannten Ländern nicht in der Lage zu sein, den Trend zur Verschuldung zu stoppen. Noch senden die Finanzmärkte zwar keine Alarmsignale, aber dennoch Warnhinweise. Die Handlungsspielräume, um das Problem zu lösen, werden kleiner. Liz Truss, die britische Premierministerin, bekam dies zu spüren, als die Finanzmärkte sie im Oktober 2022 nach der Vorlage unausgereifter Finanzpläne zwangen, nach nur 45 Tagen im Amt die Reformen zurückzuziehen und ihr Amt niederzulegen. Seither spricht man vom Liz-Truss-Moment, der jedem Land mit nicht nachhaltiger Verschuldung droht. Anleger müssen sich auf unruhigere Zeiten einstellen. Turbulenzen an den Anleihen- und Währungsmärkten scheinen nur eine Frage der Zeit zu sein. (Raiffeisen/mc)