Europas Währungshüter werden flexibler beim Thema Inflation

Europas Währungshüter werden flexibler beim Thema Inflation
(Photo by Maryna Yazbeck on Unsplash)

Paris – Europas Währungshüter verschaffen sich beim Thema Inflation mehr Spielraum. Die Europäische Zentralbank (EZB) strebt künftig für den Euroraum eine jährliche Teuerungsrate von zwei Prozent an, wie die Notenbank am Donnerstag mitteilte. Das ist zwar etwas höher als die bisher veranschlagten «unter, aber nahe zwei Prozent». Zugleich jedoch wird die EZB bei ihrem Bestreben, mittelfristig Preisstabilität im Währungsraum der 19 Staaten sicherzustellen, künftig zumindest zeitweise «moderat über dem Zielwert» liegende Inflationsraten akzeptieren.

Mit einem solchen «symmetrischen» Inflationsziel ist die Notenbank nicht mehr unmittelbar zum Reagieren gezwungen, sollten die Inflationsraten zeitweilig nach oben oder nach unten von dem prozentualen Ziel abweichen.

«Die EZB hat mit der neuen Strategie die Realität anerkannt und sich so viel Flexibilität wie möglich erarbeitet», kommentierte Jörg Zeuner, Chefvolkswirt von Union Investment. «Mit der Einigung auf ein symmetrisches Inflationsziel kann die EZB ihr Ziel einfacher kommunizieren. Gleichzeitig behält sie die Option, ruhig zu bleiben, wenn die Teuerungsrate mal über dem Ziel von zwei Prozent liegen sollte – oder eben auch darunter.»

Überprüfung der geldpolitischen Strategie
Das veränderte Inflationsziel ist das Kernergebnis der internen Überprüfung der geldpolitischen Strategie, welche die seit 1. November 2019 amtierende EZB-Präsidentin Christine Lagarde angestossen hatte. Eingeflossen sind darin auch Beratungen mit Verbraucherverbänden und Sozialpartnern sowie Bürgerstimmen.

«Die neue Strategie ist ein starkes Fundament, das uns bei der Durchführung der Geldpolitik in den kommenden Jahren leiten wird», erklärte Lagarde nach 18 Monaten Strategiedebatte bei der Vorstellung der Ergebnisse in Frankfurt. Schon bei der nächsten regulären Sitzung des EZB-Rates am 22. Juli wird die neue Strategie nach Angaben der Notenbank angewendet.

Aktionsplan für Klimaschutz
Lagarde selbst schrieb sich in dem Prozess auch den Klimaschutz auf die Fahnen. Nun beschloss der EZB-Rat «einen umfassenden Aktionsplan mit einem ehrgeizigen Fahrplan zur weiteren Einbeziehung von Klimaschutzüberlegungen in seinen geldpolitischen Handlungsrahmen», wie die Notenbank mitteilte. Beim Kauf von Unternehmensanleihen habe die EZB bereits damit begonnen, «relevante Risiken des Klimawandels» in ihren Prüfverfahren zu berücksichtigen. Ob Notenbanken mit ihrer Geldpolitik umweltpolitische Ziele unterstützen und zum Beispiel «grüne» Wertpapiere anderen vorziehen sollten, ist unter Notenbankern und Ökonomen umstritten.

Hauptziel der Notenbank ist und bleibt ein ausgewogenes Preisniveau – im Jargon der Währungshüter: Preisstabilität. «Wir haben nur eine Nadel im Kompass. Wir müssen Preisstabilität garantieren», hatte der frühere EZB-Präsident Jean-Claude Trichet immer wieder betont.

Ist die Inflation zu hoch, verlieren Verbraucher an Kaufkraft und die Währung hat weniger Rückhalt. Stagnieren Preise andererseits oder fallen auf breiter Front, kann das Verbraucher und Unternehmen verleiten, Investitionen aufzuschieben. Denn es könnte ja bald noch günstiger werden. Dieses Abwarten kann die Konjunktur ausbremsen.

Moderater Anstieg der Preise angestrebt
Daher sehen Europas Währungshüter Preisstabilität am ehesten gewährleistet, wenn die Preise im Euroraum moderat steigen. Daher wurde ein Inflationsziel mit Abstand zur Nullmarke gewählt. Bei Gründung der EZB im Juni 1998 definierten die Euro-Notenbanken Preisstabilität bei einer jährlichen Teuerungsrate von «unter zwei Prozent». Im Jahr 2003 präzisierte der EZB-Rat, mittelfristig werde eine Inflation von «unter, aber nahe zwei Prozent» angestrebt.

Nun also zwei Prozent. Damit reiht sich die EZB ein in den Chor weltweit führender Zentralbanken. Auch die US-Notenbank Fed hatte signalisiert, dass sie es tolerieren würde, wenn die Inflationsraten zeitweise über dieser Zielmarken liegen.

Im Euroraum lag die Teuerungsrate seit 2013 oft deutlich unter der Zwei-Prozent-Marke. Und das, obwohl die EZB seit Jahren und bis heute gewaltige Summen billiges Geld in die Märkte pumpt und die Zinsen auf Rekordtief hält – beides in der ökonomischen Theorie probate Mittel, um für mehr Inflation zu sorgen. Dennoch dümpelte die Teuerung im Euroraum lange weiter vor sich hin.

Kritiker fordern mehr Flexibilität
Kritiker werfen der EZB daher schon lange vor, sich mit ihrem starren Inflationsziel in eine Sackgasse manövriert zu haben und forderten mehr Flexibilität. Für Sparer jedoch hat dies auch eine Kehrseite: Je mehr Spielraum sich die EZB gibt, umso länger könnte die Notenbank an Null- und Negativzins festhalten.

Das neue Ziel bereite «höheren Inflationsraten den Weg», befand ZEW-Forscher Friedrich Heinemann. «Weil eine Inflation unter zwei Prozent jetzt als genauso schlecht wie eine Inflation über zwei Prozent gilt, wird es der EZB-Rat noch leichter haben, in den kommenden Jahren eine Fortdauer der extrem lockeren Geldpolitik und der Anleihekäufe zu rechtfertigen.»

Ihren Kritiker entgegen kommen die Währungshüter bei der Frage, ob Immobilienpreise in die Berechnung der Inflationsrate einbezogen werden sollen. Vor allem in Deutschland ist die Vorstellung verbreitet, die amtliche Inflationsrate für den Euroraums sei allein durch die Art ihrer Messung nach unten verzerrt. Immerhin empfiehlt die EZB nun, künftig auch die Preise für selbst genutztes Wohneigentum «schrittweise» mit einzubeziehen.

Zugleich bitten die Währungshüter beim Thema Hauspreise um Geduld: Es werde «noch mehrere Jahre dauern», bis diese Daten in den harmonisierten Verbraucherpreisindex HVPI einfliessen werden, den die EZB für ihre Geldpolitik heranzieht. Zum nächsten Mal auf den Prüfstand soll die geldpolitische Strategie im Jahr 2025. (awp/mc/pg)

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