Wirecard am Abgrund – Insolvenzantrag wird gestellt – Aktie stürzt ab

Wirecard am Abgrund – Insolvenzantrag wird gestellt – Aktie stürzt ab
Ehemaliger Wirecard-Hauptsitz in Aschheim. (Foto: Wirecard)

Aschheim – Der in einen Milliardenskandal verstrickte Zahlungsdienstleister Wirecard steht am Abgrund. Das Unternehmen will wegen Überschuldung und drohender Zahlungsunfähigkeit Insolvenz anmelden, wie der Vorstand in einer kurzen Ad-hoc-Mitteilung ankündigte.

Möglicherweise werden grosse Teile des Konzerns in den Abgrund stürzen: Der Wirecard-Vorstand prüft, ob auch die Tochtergesellschaften des Konzerns Insolvenz anmelden müssen. Ausgenommen bleiben soll die Wirecard Bank, diese wird laut Wirecard mit Einverständnis der Finanzaufsicht Bafin finanziell und organisatorisch von der Muttergesellschaft abgekoppelt. Weltweit beschäftigt Wirecard etwa 5800 Menschen.

Aktie wird noch für etwas über 3 Euro gehandelt
An der Börse kam es zu Panikverkäufen: Die Wirecard-Aktien hatten innerhalb der vergangenen sieben Tage bereits neunzig Prozent ihres Wertes verloren, nach der Insolvenzmitteilung rauschte ihr Kurs bis auf 2,50 Euro in die Tiefe. Zuletzt lag er im Vergleich zum Vortages-Schluss noch mit rund 72 Prozent im Minus bei 3,425 Euro. Unter den Leidtragenden, die nun auf quasi wertlosen Papieren sitzen, sind viele Kleinaktionäre ebenso wie der frühere Vorstandschef Braun, der im Februar noch Grossaktionär und Milliardär war.

Ein sofortiger Abstieg aus dem Dax droht aus heutiger Sicht nicht: «Bei einem regulären Insolvenzverfahren dagegen bleibt die Aktie bis zum nächsten regulären Anpassungstermin im Dax», erläuterte ein Sprecher der Deutschen Börse die Regeln für alle Dax-Mitgliedsunternehmen. Der nächste reguläre Anpassungstermin ist der 3. September. Dann allerdings hat Wirecard keine Chance mehr, unter den Top 30 der deutschen Börsenschwergewichte zu bleiben: Das Unternehmen war am Nachmittag an der Börse weniger als eine halbe Milliarde Euro wert.

Weiterer Geschäftsbetrieb in Frage gestellt
Bei Wirecard wird nun zunächst ein Gutachter beauftragt, der die Lage des Unternehmens beurteilt. Im nächsten grösseren Schritt nach dem Eingang des Insolvenzantrags beim Münchner Amtsgericht wird ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt. Eine entscheidende Frage bei Wirecard wird sein, ob das Unternehmen seinen Geschäftsbetrieb fortsetzen kann oder nicht.

Laut Wirecard laufen Mitte nächster Woche insgesamt 1,3 Milliarden Euro an Krediten aus, für die kein Ersatz in Sicht ist: «Ohne eine Einigung mit den Kreditgebern bestand die Wahrscheinlichkeit der Kündigung und des Auslaufens von Krediten mit einem Volumen von 800 Millionen Euro zum 30. Juni 2020 und 500 Millionen Euro zum 1. Juli 2020.» Die Fortführbarkeit des Unternehmens sei «nicht sichergestellt».

LBBW, ABN Amro und ING drohen Milliardenabschreiber
Eine Insolvenz von Wirecard könnte eine Reihe von Banken teuer zu stehen kommen, die dem Unternehmen über eine Kreditlinie einem Anleiheprospekt zufolge bis zu 1,75 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt haben. Dazu gehören als führende Institute die Commerzbank und die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), die niederländische ABN Amro und die Deutschland-Tochter der niederländischen ING .

Nach Informationen der Nachrichtenagenturen dpa und Bloomberg hatten die Banken Wirecard gerade erst einige Tage Aufschub gewährt, um die langfristige Überlebensfähigkeit des Unternehmens zu prüfen, bevor sie die ausstehende Summe zurückfordern.

Damit ist ein vor einer Woche noch als solvent und zukunftsträchtig geltender Dax-Konzern in atemberaubender Geschwindigkeit in den Abgrund gerutscht. Die Anlegervereinigung DSW forderte rückhaltlose Aufklärung. «Das ist eine Katastrophe», sagte Hauptgeschäftsführer Marc Tüngler. «Bei Wirecard hat das System versagt» – das bezieht sich auf Vorstand und Aufsichtsrat ebenso wie auf die Bilanzprüfer der Gesellschaft EY, die die Jahresabschlüsse testierte, und die behördliche Aufsicht durch die Bafin.

EY geht von umfassendem Betrug aus
EY selbst geht von schwerer Kriminalität in quasi weltumspannendem Massstab aus. «Es gibt deutliche Hinweise, dass es sich um einen umfassenden Betrug handelt, an dem mehrere Parteien rund um die Welt und in verschiedenen Institutionen mit gezielter Täuschungsabsicht beteiligt waren», erklärte EY in Stuttgart. «Im Rahmen der Abschlussprüfung für das Geschäftsjahr 2019 hat EY entdeckt, dass gefälschte Saldenbestätigungen und weitere gefälschte Unterlagen für die Treuhandkonten vorgelegt wurden.» EY habe das den zuständigen Behörden sowie dem Unternehmen und seinem Aufsichtsrat mitgeteilt.

«Konspirativer Betrug, der darauf abzielt, die Investoren und die Öffentlichkeit zu täuschen, geht oft mit umfangreichen Anstrengungen einher, systematisch und in grossem Stil Unterlagen zu fälschen», hiess es in der Mitteilung weiter. «Auch mit umfangreich erweiterten Prüfungshandlungen ist es unter Umständen nicht möglich, diese Art von konspirativem Betrug aufzudecken.»

1,9 Mrd Euro dürften gar nicht exisitieren
Im Mittelpunkt des Skandals stehen mutmassliche Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro. Unmittelbarer Auslöser der Krise war das Eingeständnis finanzieller Unregelmässigkeiten am Donnerstag vergangener Woche.

Am Freitag war Vorstandschef Markus Braun zurückgetreten, am Montag räumte Wirecard dann die Luftbuchungen ein. Die 1,9 Milliarden, die angeblich auf philippinischen Treuhandkonten lagern sollten, existieren mit «überwiegender Wahrscheinlichkeit» nicht, wie der Vorstand formulierte. Braun kam für eine Nacht in Untersuchungshaft, wurde am Dienstag aber gegen Kaution von fünf Millionen Euro wieder auf freien Fuss gesetzt.

Wirecard wickelt als Zahlungsdienstleister die bargeldlosen Geldflüsse zwischen Händlern auf der einen und Banken sowie Kreditkartenfirmen auf der anderen Seite ab. Die Aufklärung wird allein deshalb schwierig, weil sich ein wesentlicher Teil der Affäre in Südostasien abspielte: Zwei zentrale Figuren sind der ehemalige Wirecard-Finanzchef in Südostasien und ein Treuhänder, der bis Ende 2019 in Singapur für Wirecard aktiv war. Der Unternehmen betreute das – wie sich nun herausgestellt hat – in grossen Teilen wahrscheinlich gar nicht existente Geschäft mit Drittfirmen, die angeblich für Wirecard Zahlungen im Mittleren Osten und in Asien abwickelten.

Seit über einem Jahr in den Schlagzeilen
Ins Rollen gebracht hatte die Affäre die britische «Financial Times», die Anfang 2019 über mutmassliche Manipulationen in Singapur berichtete. Da es anschliessend zu aussergewöhnlichen Kursstürzen der Wirecard-Aktie an der Frankfurter Börse gekommen war, hatten die Finanzaufsicht Bafin und die Münchner Staatsanwaltschaft zuerst Untersuchungen eingeleitet, ob illegale Manöver von Börsenspekulanten dahinter steckten.

Nun herrscht erst einmal Fassungslosigkeit: «Das ist von der Dimension her sehr schwer zu greifen», sagte DSW-Hauptgeschäftsführer Tüngler. (awp/mc/pg)

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