Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Kobane und die Märkte

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Kobane und die Märkte
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen. (Foto: Raiffeisen)

Ich weiss nicht wie es Ihnen geht, aber als ich neulich in den Medien wieder den Namen Kobane hörte, wurde mir erst klar, wie sehr man doch abstumpft. Die Meldung war an sich schon spektakulär genug. In der Nähe der syrischen Grenzstadt Kobane ist letzten Freitag eine US-Militäreinheit unter Artilleriebeschuss türkischer Truppen geraten und offenbar haben die US-Amerikaner sogar erwogen, zurückzuschiessen. Danach ein Hin und Her der Behauptungen und Dementis von Amerikanern und Türken, kurzum wieder Mal ein Pulverfass.

Wann war Kobane davor zuletzt in den Schlagzeilen? Es ist tatsächlich schon fünf Jahre her. Im September 2014 griffen IS-Truppen den syrisch-kurdischen Kanton Kobane an, der sich in der seit Ende 2013 faktisch selbstverwalteten Region Rojava befand. Kobane war vom Islamischen Staat eingekesselt und es wurde das Schlimmste befürchtet. Es drohte ein Massaker im Zuge ethnischer Säuberungen. Immerhin befanden sich etwa 500‘000 Menschen in der Stadt und ihrer Umgebung. Fast 100‘000 syrische Kurden waren bereits über die türkische Grenze geflüchtet, welche die Türkei damals erst nach heftigen Protesten geöffnet hatte. Mit ohnmächtigem Entsetzen beobachteten wir damals das dortige Treiben. Die internationale Politik blieb mehr oder weniger tatenlos. Die Distanz war gerade für Europa (noch) gross genug, um wegsehen zu können. Bis zum Tod von Alan Kurdi.

Alan Kurdi
Das war dieser dreijährige Knabe, der tot am Strand von Bodrum gefunden wurde. Er war gemeinsam mit seinen Eltern und seinem Bruder an der türkischen Küste in ein Boot von Schleppern gestiegen mit dem Ziel Griechenland. Nur der Vater überlebte. Das Foto des toten Jungen konnte niemanden mehr kalt lassen. Giftgasangriffe, der Genozid an den Jesiden, Enthauptungen vor laufender Kamera hatten sich noch irgendwie verdrängen lassen, aber das Bild des Knaben nicht. Es löste eine globale Empathiewelle aus. Forderungen wurden laut, mehr gegen das humanitäre Elend der Flüchtlinge zu unternehmen. Kanada, Australien, Grossbritannien und die USA versprachen unmittelbar nach dem Tod des kleinen Alan, zusätzliche syrische Flüchtlinge in ihre Länder zu lassen.

Angela Merkel hätte das Timing ihres „Wir schaffen das“ nicht besser wählen können. Natürlich wusste sie am 31. August 2015 noch nicht, dass zwei Tage später das erschütternde Bild des kleinen Alans um die Welt gehen würde, aber Deutschland war nun emotional so überwältigt, dass Merkels Satz nicht nur nicht in Frage gestellt wurde, sondern auch gleich noch die deutsche Willkommenskultur ins Leben rief. Was davon übrig blieb, wissen wir inzwischen. Europa hat es nicht geschafft sich in der Migrationspolitik zusammenzuraufen.

In der Not schlossen die Europäer schliesslich den Flüchtlingspakt mit der Türkei und sprachen sechs Milliarden Euro, von denen das meiste Geld direkt an Hilfsorganisationen in der Türkei floss. Das könnte sich nun rächen, denn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan drohte unverhohlen, die Grenzen seines Landes wieder flüssig zu machen, wenn die EU seine militärischen Operationen in Syrien als Invasion darzustellen versucht. „Wir werden die Tore öffnen und 3,6 Millionen Menschen werden zu euch kommen“ liess sich Erdogan letzte Woche zitieren.

Auf sich gestellt und nichts bestellt
Nach der Ankündigung des amerikanischen Abzugs aus Nordostsyrien sah sich Donald Trump heftigen Protesten ausgesetzt. Damit hatte er wahrscheinlich nicht gerechnet und er ist bis auf weiteres mal etwas zurückgekrebst. Die USA forderten am Dienstag eine sofortige Waffenruhe und offenbar hat Erdogan Trump gemäss NZZ zumindest zugesichert, Kobane nicht anzugreifen. Doch wie man weiss, sind die Halbwertszeiten solcher Statements oft sehr kurz. Trump darf immerhin von Invasion sprechen und Sanktionen gegen die Türkei ankündigen, ohne dass ihm Erdogan gleich droht. Heikel wird es aber dann, wenn die syrischen Truppen Baschar al-Assads eingreifen, denn die Türkei ist Mitglied der Nato. Die EU hält sich aber nach wie vor zurück.

Auf sich allein gestellt zeigt sich der alte Kontinent einmal mehr handlungsunfähig. Eine schwache Empfehlung, der Türkei keine Waffen mehr auszuliefern war bis gestern das einzig Greifbare. Die EU bestätigt einmal mehr ihre Uneinigkeit in aussenpolitischen Fragestellungen. Und wie reagieren die Finanzmärkte auf diesen neuen schweren Cocktail?

Humanität der Märkte
Die Antwort ist leicht: mehr oder weniger gar nicht. Geopolitische Konflikte sind für die Finanzmärkte mehr und mehr zur Routine verkommen. Wo scharf geschossen wird, wird am Markt nur noch dumpf reagiert, umso dumpfer fast, je mehr geschossen wird. Auch wirtschaftliche Verwerfungen werden unter den Tisch gekehrt. Hongkong, wen interessiert’s? Es kümmert weder Brexit und Boris Johnsons neues „wir schaffen das“ noch der Sinkflug der europäischen Konjunktur im Soge der deutschen Industrie. Eingelullt vom billigen Geld der Notenbanken fühlen sich die Marktteilnehmer auf der sicheren Seite. Wenn es nun den Notenbanken auch noch gelingt, Deutschland so weit zu bringen, dass die berühmte schwarze Null fällt und die Regierung Fiskalimpulse schaltet, dann dürfte das sogar noch Kursavancen auslösen statt Bedenken über die Nachhaltigkeit solcher Impulse. Stumpfer geht’s eigentlich gar nicht. Nur sind die Märkte kein anonymes Gebilde sondern Orte mit vielen Menschen und so reagieren sie auch. Sie stumpfen nun mal ab, das ist nun mal menschlich.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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