EU-Beitrittsgesuch liegt im Brüsseler Untergrund

EU-Beitrittsgesuch liegt im Brüsseler Untergrund

Das Schweizer Beitrittsgesuch liegt im Archiv des EU-Ratsgebäude Justus Lipsius.

Brüssel – Soll die Schweiz das EU-Beitrittsgesuch zurückziehen oder nicht? Existiert es überhaupt noch? Diese Fragen, die in Bern immer wieder aufgeworfen werden, sorgen in Brüssel höchstens für Kopfschütteln. Um es vorweg zu nehmen: Ja, die Gesuche der Schweiz existieren noch. Wer die Originale in Brüssel sehen will, muss aber Geduld und einen guten Orientierungssinn mitbringen.

Denn sie liegen im riesigen Archiv des Ratsgebäudes Justus Lipsius, zusammen mit zig Tausend internationalen Verträgen, Abkommen und vielen anderen Beitrittsgesuchen. Zugänglich sind die Dokumente erst, wenn das entsprechende Besichtigungs-Gesuch gutgeheissen wird. Mit der Bewilligung in der Tasche und dem richtigen Zugangspass am Revers geht es in den Untergrund. Die verschlungenen Gänge, ausgelegt mit etwas abgetretenem 1970er Jahre Spannteppich in Olivgrün, sind sonst den Vertretern der EU-Mitgliedstaaten, Ministern und Ratsangestellten vorbehalten. Im fünften Untergeschoss präsentiert eine Mitarbeiterin des EU-Archivs dann ein dünnes Karton-Mäppchen. Darin liegen – fein säuberlich sortiert – die Originale der drei Gesuche der Schweiz vom 20. Mai 1992.

Prozedere gestoppt
Abgelegt ist auch die Empfangsbescheinigung des damaligen portugiesischen Ratspräsidenten Joao de Deus Pinheiro an «Monsieur le président» René Felber. Zudem liegt der Entscheid des Ministerrats vom 15. Juni des gleichen Jahres bei, die Aufnahme-Prozedur in Gang zu setzen. Doch die Aufforderung an die Kommission, ihre Empfehlung zum Beitrittsgesuch der Schweiz auszuarbeiten, wurde nie umgesetzt. Das knappe Nein zum Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) am 6. Dezember 1992 wurde in Brüssel als Signal wahrgenommen, das Prozedere nicht mehr weiterzuführen.

Beitrittsgesuch Marokkos abgelehnt
Die Schweiz ist nicht das einzige Land, das zwar ein Beitrittsgesuch gestellt hat, aber bisher nicht EU-Mitglied wurde. Da findet sich auf Arabisch das Beitrittsgesuchs Marokkos von 1987. Nach Erkenntnis von EU-Experten bisher das einzige, das abgelehnt wurde. Aber auch die beiden letzten Gesuche Norwegens von 1972 und 1994 liegen dort. Beide Male wurde ein Beitritt von den Norwegerinnen und Norweger an der Urne abgelehnt. Andere Länder sind inzwischen längst beigetreten: Schweden stellte das Gesuch am 3. Juli 1991, Finnland am 18. März 1992. Nach den Schweizer Gesuchen folgten jene von Ungarn am 31. März 1994 und Polen am 5. April 1994.

Kopfschüttteln in Brüssel
Die Forderung nach einem Rückzug des Beitrittsgesuchs, welche in der Schweiz immer wieder von der SVP gestellt wird, erntet in Brüssel höchstens Kopfschütteln: «Was bringt das der Schweiz denn?», fragt ein EU-Diplomat. Die Dokumente auf Papier «zurücknehmen», könnte die Schweiz sowieso nicht. Diese bleiben mindestens 30 Jahre im Archiv in Brüssel liegen. Sind sie von «historischem Wert», werden sie danach der Europäischen Universität in Florenz übergeben.

Allfälliger Beitrittswunsch wäre neu zu formulieren
Möchte die Schweiz wider Erwarten doch plötzlich der EU beitreten, müsste sie «ihre Absicht nochmals neu formulieren», hält ein juristische Experte fest. Die gleiche Antwort hatte Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey bei der letzten Diskussion dazu im Ständerat gegeben. Denn die Gesuche sind an die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) gerichtet, die damals die Europäische Gemeinschaft (EG) bildeten. Heute müsste ein Gesuch an die Europäische Union (EU) adressiert sein. (awp/mc/ps)

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