Meret Schneider: Sessionen und die Mär mit dem Milizsystem

Meret Schneider: Sessionen und die Mär mit dem Milizsystem
Meret Schneider, Nationalrätin, Grüne Schweiz. (Bild: parlament.ch)

Es ist politische Sommerpause. Zumindest in der Schweiz. Auf Social Media zeigt man sich privat, wir finden Typ CO2-neutrale Veloferien in Softshelljacke, Typ Familienmensch mit Kindern am Badesee, Typ Kunst- und Kulturkennerin in obligatorischerweise unbekannten weil so anspruchsvollen Ausstellungen (Geheimtipp!) oder Typ naturverbundener Patriot am Brötle auf Schweizer Wanderwegen – sympathisch und volksnah, wie wir es mögen. Das Politischste, was sich vernehmen lässt, sind einige Dutzend 1. Augustreden auf Bauernbrunches, ansonsten gönnt man sich die Auszeit und tut dies möglichst medial kund. Doch um diese Inszenierung unbeschwerter Privatheit soll es hier gar nicht gehen – es geht um die Absurdität des Sessionsrhythmus.

Während Herr und Frau Schweizer Parlamentarierin nämlich Berge besteigen und Seen beschwimmen, dreht sich die globale Politik in einer Geschwindigkeit weiter, die mir immer mal wieder den Atem stocken lässt. Trumps Ultimatum bezüglich der Zölle läuft am 1. August aus, dann wird bekannt, welche Zölle nun auf welche Länder angewendet werden – wenn es sich Mr. President nicht noch einmal anders überlegt.

Auch in der EU arbeitet man weiter und im Nahen Osten kennt man keine Sommerpause, leider, wie man aktuell konstatieren muss. Es liegt in der Natur des Sessionsrhythmus, dass unser Parlament eigentlich nur während der Sessionen im März, Mai, Juni, September und Dezember wirklich handlungsfähig ist. Selbstverständlich gibt es dazwischen Kommissionssitzungen und Krisen wie Pandemie oder CS-Crash haben unter Beweis gestellt, dass im Notfall auch gehandelt wird, aber der ordentliche Betrieb findet nur in diesen Monaten statt. Dazwischen bräuchte es ausserordentliche Beschlüsse und Sitzungen, um tagesaktuell auf Geschehnisse reagieren zu können, ansonsten müssen Vorstösse und Interventionen jeweils auf die nächste Session warten. Das System scheint sich soweit etabliert zu haben, dass ich tatsächlich noch nie ein*e Parlamentarier*in gehört habe, der/die es in Frage stellt. Und dies, obwohl es meines Erachtens in doppelter Hinsicht problematisch ist.

Zum einen ist da der Umstand, dass im Regelbetrieb nur sehr verzögert auf weltpolitisches Geschehen reagiert werden kann, zumindest von uns Parlamentarier*innen (der Bundesrat kann selbstverständlich reagieren und tut es auch). Zum anderen aber, und das tangiert eine Schweizer Tradition, auf die wir eigentlich stolz zu sein pflegen und sie zumindest in den 1. Augustreden lobpreisen, nämlich das Milizsystem. Die Idee wäre es eigentlich, dass sämtliche Parlamentarier*innen neben dem Mandat einer Berufstätigkeit nachgehen, die sie gelernt oder studiert haben. In vielen Fällen ist dies jedoch nicht mehr der Fall und die Tätigkeiten beschränken sich auf diverse Einsitze in Verwaltungsräten, einer Anwaltstätigkeit oder auf das Sammeln diverser Mandate und Interessenvertretungen, die Fragen aufwerfen bezüglich einem unabhängigen Politisieren. Tatsächlich kann man es den Parlamentarier*innen aber wenig ankreiden, lässt sich dieser Rhythmus mit einem gesellschaftsüblichen Job doch nur schwer vereinbaren.

Während meiner ersten Legislatur arbeitete ich in der Gastronomie, was für alle Beteiligten eine echte Herausforderung war. Nur durch Entgegenkommen der anderen Mitarbeitenden war mir dies möglich, da jemand sämtliche meiner Schichten während der Sessionen kompensieren musste und dafür in sessionsfreien Zeiten wesentlich weniger arbeitete, da ich dann im Einsatz war. In einem Job wie in der Pflege oder diversen Restaurationsbetrieben mit klaren Schichtplänen, die man nicht eben nach dem Politikbetrieb umstrukturieren kann, ist es als Parlamentarier*in gar nicht möglich, zu arbeiten.

Aktuell arbeite ich als Projektleiterin und habe das Glück, eine Arbeitgeberin zu haben, die es mir ermöglicht, während der Sessionen gar nicht und dazwischen voll zu arbeiten, um auf eine Jahresarbeitszeit zu kommen – dies ist aber keineswegs selbstverständlich und ich schätze dieses Privileg enorm. Wenn es uns also ernst ist mit dem Milizsystem und Parlamentarier*innen auch in “ganz normalen” Jobs arbeiten sollen, um diese Menschen auch zu vertreten, seien es Bäcker, Hausärztinnen oder Detailhandelsmitarbeitende, so müsste der Sessionsbetrieb eigentlich umstrukturiert werden. Warum nicht wöchentlich 2-3 Tage Sitzung über das ganze Jahr hinweg? So könnte man daneben einem geregelten 40%-Job nachgehen, ohne auf Sonderlösungen angewiesen zu sein und es wäre tatsächlich möglich, in sämtlichen gesellschaftsrelevanten Branchen zu arbeiten. Ausserdem könnte sehr direkt auf Tagesaktualität reagiert werden und politische Interventionen würden nicht mehr so lang verzögert. Ich bin mir sicher, es gibt gute Argumente, warum dies nicht so gemacht wird, und ich bin gespannt, sie vielleicht von euch Lesenden zu hören.


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