Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: 4G

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: 4G
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Nach einer gefühlten Minipause – denn ganz weg war das Virus ja nie – reden wir wieder von Zahlen. Eine Zeit lang waren sie Nebensache, da vernachlässigend klein. Auch die Deltavariante liess uns hierzulande relativ kalt und wir konnten einige der wiedergewonnenen Freiheiten geniessen. Verwandte, Freunde oder Bekannte treffen, relativ unbeschwert wieder ins Restaurant gehen, ein Fussballspiel oder Konzert besuchen. Doch übers Wochenende und pünktlich zum Schulbeginn in vielen bevölkerungsreichen Kantonen hat die Angst auch in der Schweiz wieder Einzug gehalten.

Zwar geben sich die kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren noch betont locker, aber die jüngst wieder deutlich steigenden Neuzugänge in die Intensivstationen hat sie doch aufgerüttelt. Ähnlich viel neue Hospitalisierungen hatten wir zuletzt im Frühjahr gesehen, als die zweite Welle schon allmählich am Abklingen war. Nur an deren Höhepunkt zwischen Oktober und Dezember lagen die Neueinweisungen höher.

Auch die Fallzahlen gehen wieder sichtbar in die Höhe. Die am 16. August 2021 gemeldeten 3’958 Neuansteckungen sind der bisherige Jahreshöchstwert. Nur wenig davor lagen die täglichen Neuansteckungen noch im dreistelligen oder tiefen vierstelligen Bereich. Man mag es zwar ungern hören, aber wir sind wieder in einer Welle, mittlerweile der vierten, wenn man auf die Neuansteckungen abstellt und den daraus berechneten Siebentagedurchschnitt. Während die dritte Welle mit den neuen Virusvarianten in der Schweiz insgesamt relativ glimpflich verlief, damals standen vor allem die angelsächsischen Länder Frankreich, Belgien, Brasilien und die USA zuoberst auf dem Treppchen, holt die Schweiz in der laufenden vierten Welle recht schnell auf.

Mit rund 289 neuen Fällen pro Million Einwohner liegen wir zwar meilenweit weg von den damals auch im weltweiten Vergleich extrem hohen fast 1’000 (exakt 951) Fällen pro Million Einwohner, welche wir am 7. November 2020 markierten, aber die Kurve steigt relativ steil und die Schweiz hat jüngst den Spanien oder auch Belgien überholt und von den grösseren Volkswirtschaften liegen «lediglich» das Vereinigte Königreich, die Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreich vor der Schweiz. Während in unserem westlichen Nachbarland die Kurve aber bereits (wieder) sinkt, steigt sie hierzulande noch stark an.

Die isolierte Betrachtung der Fallzahlen erinnert stark an die zweite Welle, die wir seinerzeit verschlafen haben und erst nach viel zu langem Warten mit einem Teillockdown wieder brechen konnten. Auch wenn die Konstellation «dank» mittlerweile bald 800’000 Personen, die schon infiziert waren, und gut 4.3 Millionen Durchgeimpften weniger heikel ist als im Frühjahr, ist der Spuk hierzulande offensichtlich noch längst nicht vorbei. Wir stehen vor entscheidenden Wochen. Die Urlaubsrückkehrer leisten zurzeit einen signifikanten Beitrag zum Wiederanstieg der Fallzahlen. Und wenn auch nicht nachweisbar, so dürften auch die dank Lockerungen wiedergewonnenen Freiheiten und die Nonchalance vieler Geimpfter dazu beitragen, dass die Zahlen nun wieder ansteigen.

Noch ist die Lage relativ entspannt, vor allem wenn man die Auslastung der Intensivstationen der Spitäler betrachte, die bei knapp 75 % liegt. Und auch die Zahl der Todesfälle ist nicht weiter besorgniserregend, auch wenn dahinter jeweils ein Einzelschicksal steht, das etlichen Angehörigen und Freunden Trauer und Leid zufügt. Der bald scheidende Sommer und dann wieder tiefere Temperaturen werden unsere Aktivitäten jedoch wieder sukzessive von draussen nach drinnen verlagern, was automatisch mehr Nähe mit sich bringt. Letzten Herbst haben wir 1:1 erlebt, was dies bedeutet. Nämlich, dass eine als geklärt befundene Bedrohung rasch wieder zu einer werden kann. So abgedroschen es klingt, Corona lehrt uns, dass eine «Binsenweisheit» äusserst zutreffend ist: «Wehret den Anfängen». Was wäre aus Sicht der Wirtschaft nun das Beste?

Darauf gibt es wohl nur eine Antwort. Wir müssen impfen, was das Zeug hält und zwar nicht nur die Risikogruppen, um diese vor Komplikationen oder schweren Folgen einer Infektion zu schützen oder gar dem Tod, sondern sämtliche Erwachsenen in der Schweiz. Dazu müssen wir testen bis zum Abwinken und zwar gratis. Natürlich bedeutet dies einen gewissen Anreizschwund für die Impfung selbst, aber es geht darum, die Ausbreitung des Virus wenigstens in «geregelte» Bahnen zu lenken, um gar nicht erst wieder in Rücklage zu geraten, weil das Gesundheitssystem an den Anschlag kommt. Denn dann würde exakt wieder das passieren, was wir schon erlebt haben. Lockdown, Teillockdown oder vielleicht auch nur – je nach Schwere – leichte Restriktionen, alles schädlich für die Wirtschaft, denn bereits ein Teilstillstand führt zu einer Beeinträchtigung des wirtschaftlichen Lebens. Von den gesellschaftlichen Folgen ganz zu schweigen.

Und Föderalismus und direkte Demokratie dürfte ein weiterer Lockdown, welcher Art auch immer, wohl noch ärger zusetzen als die bisherigen. Allein schon darum gilt es einen solchen zu vermeiden. Noch haben wir es selbst im Griff, aber es braucht Durchhaltewillen und Disziplin, Eigenschaften, die schon fast archaisch klingen und es klingt noch abgedroschener als obige Binsenwahrheit. Wir müssen uns läutern und in Geduld üben, hinterfragen ob es eine Flugreise sein muss, nur weil wir letztes Jahr nicht nach Mallorca konnten, ob wir auf die Maske verzichten, weil wir geimpft sind, oder ob wir gar erst recht allem trotzen, nur weil wir jetzt die Nase voll haben von Corona und auf Ignoranz machen. Die drei G sind die elementaren Trigger, dass es bald mal aufhört. Geimpft, getestet oder genesen. Doch das vierte G ist am Anspruchsvollsten. Geläutert müssen wir sein. (Raiffeisen/mc)

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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