Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Chips für alles, aber nicht für alle

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Chips für alles, aber nicht für alle
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Die Pandemie – heisst es – habe den Hunger nach Chips enorm angefacht. Das liegt sicherlich daran, dass viele von uns zu Hause sitzen und statt einem geregelten Arbeitstag mit festen Mahlzeiten einen eher unbestimmten Rhythmus fahren und ordentlich kochen nicht jedem zusagt. So eine Tüte Chips ist da der ideale Snack, bis man sich gegen Abend eine Pizza nach Hause liefern lässt. Das ist natürlich klischeebehaftet und übertrieben, doch eines ist gewiss: wir haben seit längerem viel zu wenig Chips.

von Martin Neff – Chefökonom Raiffeisen

Nicht die essbaren Chips von Zweifel und Co. versteht sich, denn an Kartoffeln oder ähnlichen Zutaten mangelt es kaum. Aber an diesen kleinen Dingern, die es heute in fast jedem Gerät braucht. Halbleiter sind zur Mangelware geworden und wer glaubt(e), dass es sich da nur um Coronabedingte Engpässe handeln würde, die bald einmal wieder verfliegen werden, sieht sich allmählich Lügen gestraft. Der akute Mangel hat vielleicht seinen Ursprung in der Pandemie, aber gemäss Branchenkennern war längst absehbar, dass es irgendwann dazu kommen würde. Corona diente lediglich als Katalysator für die Engpässe in der Versorgung.

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich mir einen neuen Staubsauger zugelegt. Ich hatte es satt, dieses veraltete Gerät aus den 1990-er Jahren durch die Wohnung zu ziehen, den Kabelsalat sowieso und erst recht noch, diese blöden Staubbeutel laufend wechseln zu müssen. Inzwischen teilt ein Vierbeiner mit mir die Wohnung, ein (sehr grosses) «Fellkind», wie meine Frau zu sagen pflegt. Mit der Betonung auf Fell, denn der Bursche haart trotz kurzem Haar nicht schlecht, so dass selbst der noch relativ neue kabellose Staubsauger rasch an seine Grenzen gerät. Auch wenn der über eine chipgesteuerte Automatik jede Art von Staub, Flusen oder was sonst noch so auf dem Boden landet differenziert analysiert und entsprechend behandelt. Ich muss nur noch einen Knopf betätigen und das Teil durch die Wohnung führen. Den Rest erledigt die Maschine einwandfrei, Chip sei Dank. Doch mit dem vielen Fell, ist schon fast Dauereinsatz nötig – ich übertreibe natürlich ein bisschen.

Erst einmal auf den Geschmack gekommen und dem Hund geschuldet, habe ich mir nun einen Saugroboter zugelegt. Dieses Gerät ist das Nonplusultra – wie ich finde. Es macht jetzt alles von allein, ich steuere den Saugroboter über mein Handy, kann ihm Wege vorgeben und er fährt artig an eine Absaugstation, die ihn leert, bevor er weiter durch die Wohnung surrt, während ich mit dem Hund draussen eine Runde drehe. Auch hier noch einmal: Chip sei Dank. Nun bin ich mittlerweile in einem Alter, in dem man nicht mehr auf jede technologische Neuerung aufspringen muss. Aber das Beispiel des Staubsaugers illustriert zwei Trends eindrücklich. Erstens das Tempo des technologischen Fortschritts und zweitens den Einzug der Mikroelektronik in den (u.a. häuslichen) Alltag. Meine Mutter hatte in ihrem ganzen Leben als Hausfrau drei Staubsauger. Und was für monströse Maschinen. Der Fortschritt beschränkte sich damals auf Saugkraft, Filter, Auffangvolumen und Gewichtsreduktion. Das ist heute alles schon fast optimiert, wenn man ein Gerät erwirbt. Das Sahnehäubchen aber ist die Elektronik. Und für die braucht es mindestens einen Chip. Kleine Warnung zum Schluss dieser kleinen Episode: der Saugroboter überwindet (noch) keine Schwellen, aber für mein Loft ist er bestens geeignet.

Sie ahnen, auf was ich hinaus möchte. Halbleiter sind die Bausteine, welche die Elektronik, die inzwischen in jeden Lebensbereich Einzug hält, zum Laufen bringen. Längst sind es nicht nur Computer oder Drucker, Handys oder Notebooks, für welche Chips unverzichtbar sind. Unsere Waschmaschine, der Wäschetrockner, das Bügeleisen, der Fernseher, der Kühlschrank, unsere Autos, Flugzeuge, Raketen sowieso und so vieles mehr: wo man schaut, werden Produkte «elektronisiert», heisst mit Chips gepimpt, damit sie möglichst viel ganz allein oder ihre Nutzung für uns zumindest einfacher, bequemer machen. Dieser Trend mag sich durch Corona etwas verstärkt, meinetwegen auch beschleunigt haben. Einerseits weil die Nachfrage nach mobilen Endgeräten – die Zeiten des «einen» Familiencomputers sind längst vorbei – spürbar zugenommen hat, andererseits weil die Produktion im Halbleiter-Hochland Taiwan wiederholt ins Stocken geraten ist, mal pandemie- mal wetterbedingt. Doch der Trend der «Elektronisierung» unserer Welt, war schon länger absehbar, ebenso die Engpässe, welche früher oder später im Halbleitermarkt zu verzeichnen sein werden.

Halbleiter bzw. Chips sind mittlerweile von strategischer Bedeutung für hochentwickelte Volkswirtschaften. Viele Länder investieren Milliarden in den Auf- oder Ausbau der Chipindustrie. Auch im alten Kontinent und im so vom Auto abhängigen Deutschland tut sich diesbezüglich etwas. Die EU möchte 200 Milliarden in die Digitalisierung investieren und der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck will private und öffentliche Investitionen von 10 Milliarden anstossen. Gleichzeitig reift die Erkenntnis, dass Spaltmass oder Pferdestärken und selbst die hochgeliebte solide Verarbeitung nicht mehr das Mass der Dinge sind, sondern die Elektronik, welche die «Convenience» schafft, die heute gefragt ist. Endlich, neigt man zu sagen, es brauchte schon viel zu lange, von alten Gewohnheiten abzukommen. 90 % der Innovationen im Automobilbau stammen heute aus der Mikroelektronik. Der Rest ist faktisch beliebig austauschbar.

Korea liefert ebenso grossartige Autos und Tesla hat einen Riesenvorsprung auf Audi und Co., auch wenn das dem deutschen Dünkel nur langsam dämmert. In anderen Industriebranchen ist das nicht gross anders, selbst im Dienstleistungssektor: nichts geht mehr ohne Halbleiter. Engpässe werden – so glaube ich – demnach anhalten, solange die Produktion nicht nachhaltig gesteigert werden kann. Auch der ökologische Umbau und die Kreislaufwirtschaft werden ohne Chips Utopie bleiben. Der Ausbau der Chipproduktion ist demnach nicht nur ein wichtiger strategischer Faktor für künftigen Wohlstand, sondern vor allem auch ein Wettlauf mit der Zeit. Und bis dahin gilt. Der «vorübergehende und auf Sondereffekten beruhende» Versorgungsengpass mit Elektrochips ist ein Perpetuum, das uns noch ein paar Jährchen beschäftigen wird. Wer jetzt eine zu lange Leitung hat, wird bald keine Halbleiter mehr haben oder viel dafür zahlen. Denn billiger werden die Dinger wohl kaum. Im Gegenteil! (Raiffeisen/mc/pg)

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