Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Der Durchschnitt trügt

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Der Durchschnitt trügt
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) gibt diesen Freitag seine Quartalsschätzung zur Entwicklung des Schweizer Bruttoinlandprodukts im vierten Quartal 2020 bekannt. Der Median der Analystenschätzungen, gemäss Bloomberg 17 an der Zahl, liegt bei genau 0 %, wobei die Spannbreite diesmal ausserordentlich gross ist und zwischen -1.5 % und +0.9 % reicht.

Wir erinnern uns, Ende Oktober ist die zweite Coronawelle auch in die Schweiz übergeschwappt und nach wochenlangem Abwarten hat der Bundesrat im Dezember schliesslich die Eindämmungsmassnahmen deutlich verschärft. Am schlimmsten traf es bekanntlich Restaurants sowie Freizeit-, Sport- und Kultureinrichtungen. Diese sind nun schon seit dem 22. Dezember geschlossen. Das Wirtschaftsgeschehen hat sich aber schon vorher verlangsamt, wie Mobilitätsdaten von Google zeigen. Kaum sind die Fallzahlen im November in die Höhe geschossen, hat die Bevölkerung wieder begonnen, den öffentlichen Verkehr, Einkaufsläden und andere Einrichtungen zu meiden.

Wie gross war nun dieser Einbruch wirklich oder hat die Wirtschaft sogar tatsächlich zulegen können? Viele Auguren blicken gespannt auf die Veröffentlichung des SECO. Doch eigentlich ist diese BIP-Zahl angesichts des Lockdowns im Januar bereits Schnee von gestern, ganz zu schweigen davon, dass es sich faktisch nur um eine Schätzung handelt, die später sicher wieder revidiert wird. Die Ökonomenzunft schaut wie üblich viel zu sehr in den Rückspiegel. Das hat aber auch damit zu tun, dass das SECO die BIP-Zahlen rekordverdächtig spät veröffentlicht, zumindest im internationalen Vergleich. Alle bedeutenden Volkswirtschaften haben die Zahlen für das vierte Quartal bereits bekanntgegeben, in den meisten Fällen schon vor vielen Wochen. Unter den G-20 Ländern sind nur Kanada und die Türkei noch langsamer als die Schweiz.

Eine zweigeteilte Wirtschaft
Gerade in der Coronakrise und dem Stop-and-Go der Wirtschaft ist der Blick in den Rückspiegel aber wenig aufschlussreich. Man muss dem SECO daher zu Gute halten, dass es letzten November einen Indikator für das Bruttoinlandprodukt entwickelt hat, der die Wirtschaftsdynamik fast in Echtzeit misst. Der neue Indikator basiert auf neun einzelnen, schnell verfügbaren Konjunkturindikatoren, z.B. dem Stromverbrauch oder der Stickstoffkonzentration in der Luft und wird wöchentlich veröffentlicht. Laut diesen Daten ist die Schweizer Wirtschaft insgesamt relativ glimpflich durch den zweiten Lockdown gekommen und liegt aktuell «nur» noch etwa 2 % unter dem Vorjahresniveau. Das spricht dafür, dass wir am Freitag eine schwarz Null oder sogar ein minimes Wachstum sehen könnten.

Doch wie gut gibt der neue Indikator des SECO die wirkliche Lage der Wirtschaft wieder, wenn vier der neun Unterindikatoren, wie z.B. die Warenexporte, eher der Industrie zuzurechnen sind, diese aber nur 20 % der Schweizer Wertschöpfung ausmacht? Ganz anders als in früheren Krisenphasen hält sich die Industrie nämlich gut, während der Dienstleistungssektor bis ins Mark getroffen wurde.

Der Durchschnitt ist nicht immer das Mass aller Dinge
Dass die Wirtschaft zweigeteilt ist, zeigen zum Beispiel die Einkaufsmanagerindizes, also Umfragen bei Unternehmen, die danach gefragt werden, ob ihre Situation besser, schlechter oder gleichgeblieben ist. Indikatoren dieser Art sind einfach aufgebaut und schnell verfügbar, weshalb sie in der Konjunkturbeobachtung als Goldstandard gelten. Momentan zeigen sie, dass sich die Einschätzung der Industrieunternehmen in den letzten Monaten verbessert hat, während die Stimmung im Dienstleistungssektor eher schlecht ist. Leider haben aber auch Einkaufsmanagerindizes ihre Tücken und spiegeln nicht zwangsläufig die «wahre» Lage der Wirtschaft wieder. So wird die Anzahl der positiven Antworten den negativen gegenübergestellt, ohne jedoch zu erfassen, wie gross das Ausmass der Veränderung ist.

Eine nur minim negative Entwicklung eines Unternehmens erhält damit dasselbe Gewicht, wie wenn bei einer anderen Firma der Umsatz komplett wegbricht und der Konkurs unmittelbar bevorsteht. Wie sie vielleicht wissen, veröffentlicht die Raiffeisen Gruppe seit drei Jahren den ersten Schweizer Einkaufsmanagerindex, der ausschliesslich auf KMU basiert und dieser zeigt ziemlich klar, dass KMU aus der Industrie schlechter durch die Krise kommen als Grossunternehmen. Zugegebenermassen gilt auch hier der gleiche Einwand wie bei anderen Einkaufsmanagerindizes. Wir wissen schlicht nicht, um wieviel schlechter genau es den KMU geht. Weil eine eindeutige Interpretation nicht immer möglich ist, werden solche Unternehmensumfragen auch als «weiche» Konjunkturindikatoren bezeichnet. Solche die auf messbaren Wirtschaftsdaten basieren gelten wiederum als «harte» Indikatoren. Auch das BIP-Wachstum kann man als einen solchen «harten» Indikator bezeichnen. Aber auch hier gilt: der Durchschnitt ist nicht immer das Mass aller Dinge. Auch wenn das BIP-Wachstum zum Jahresende positiv ausfiel, hilft das den vielen Betrieben, die gerade ums Überleben kämpfen nicht weiter. BIP-Wachstum im vierten Quartal hin oder her, der Start ins neue Jahr war für viele hart. Ich hab’s daher immer weniger mit dem Durchschnitt.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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