Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Inflationsängste

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Inflationsängste
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Ich will hier keineswegs die Tränendrüsen aktivieren, aber der Anlass passt irgendwie. Als meine Eltern einem Unfall zum Opfer fielen, blieb mir und meinen Geschwistern gezwungenermassen keine Wahl: wir mussten den Nachlass abwickeln. Und wie das so ist, wenn die Emotionen hochschlagen, wühlte jeder der Nachfahren in unterschiedlichen Unterlagen. Ich war schon damals ein Zahlenmensch und blieb in einem sogenannten Haushaltsbuch stecken. Dort hatte mein Vater feinsäuberlich und unvorstellbar genau für heutige Massstäbe jede einzelne Ausgabe, die er getätigt hatte, dokumentiert.

Da stand dann in der ersten Spalte unter anderem: Schuhe Martin, Kleid Irene, Hose Brigitte, Schulheft Gertrud und, und, und. Jeder Betrag war einzeln in der nächsten Spalte aufgeführt. Meine Eltern waren tunlichst bemüht, ihr bescheidenes Einkommen gerecht unter den Sprösslingen zu verteilen. Am Samstag fuhren wir, das heisst meine Wenigkeit und Papa, Getränke kaufen. Und tanken! Meine damalige Wahrnehmung von Preisen und deren Entwicklung war ziemlich limitiert. Ich wusste (mit 8-11 Jahren) aber sehr genau, wie viel ein Liter Sprit kostete. Und ich nahm auch wahr, wie intensiv der Benzinpreis in Verwandtschafts- und Bekanntschaftskreisen diskutiert wurde.

Ich hatte indes nur wenig oder keine Ahnung, wie viel ein Kilo Schweinefleisch kostet, Rindfleisch sowieso nicht oder Kalb. Ich kannte lediglich noch den Milchpreis und das auch nur, weil ich sie täglich holen musste, die Milchkanne ein unverwechselbarer Massstab war und ich entsprechend Geld in die Hand bekam. Manchmal hörte ich meine Eltern sagen, dies oder das sei teurer geworden, aber mein Fazit fällt kurz aus. Selbst in Phasen hoher Inflation, die es damals noch gab, waren die Preise für Gebrauchsgüter für mich kein Thema. Als ich dann selbst Geld verdiente, gab es den berühmten Teuerungsausgleich. Man hatte sozusagen von Gesetzes wegen den Anspruch auf eine Lohnerhöhung im Umfang der Jahresteuerung, was jeweils die berühmte Lohn-Preisspirale ins Rollen brachte.

Mitte der Neunzigerjahre wurde der Teuerungsausgleich abgeschafft genauso wie die Inflation, die im Soge der Globalisierung und der immensen Produktivitätsfortschritte immer tiefer ausfiel. Sie geriet schliesslich sozusagen in Vergessenheit. Und mit ihr die Preissensibilität, denn Discounter und ein harter Wettbewerb im Detailhandel sorgten für eine Preisschlacht, welche alles nur noch billiger machte. Nach der Finanzkrise kursierten sogar Deflationsängste.

Nun aber soll sie zurück sein die Inflation. Die Wall Street machte letzte Woche einen Taucher, nachdem die US-Verbraucherpreise höher ausgefallen waren, als der Markt dies erwartet hätte. Die Preise schnellten im Vergleich zum Vorjahr um über 4% in die Höhe. Betrachtet man indes genauer, woher der Anstieg kommt, wird man nur vereinzelt fündig. Die Preise stiegen zwar alle etwas an, aber Gebrauchtwagen und Reisepreise machten zwei Drittel des Anstiegs aus. Dass in den USA, wo Mobilität so gross geschrieben wird, die Gebrauchtwagenpreise aufschlagen, ist kein Wunder, nachdem die Regierung einen Geldsegen über das Land regnen liess. Und der eine oder andere Haushalt gönnte sich wohl auch einen Wochenendausflug oder Urlaub, was es der arg gebeutelten Reisebranche erstmals seit langem wieder möglich machte, die Tarife anzuheben.

Auch in Europa reden alle wieder von Inflation. Es sind da aber vorerst vor allem die Produzentenpreise, die wieder anziehen und es bleibt sehr fraglich, ob diese einmal vollständig auf die Konsumenten überwälzt werden können. In den USA mag der Konsum derzeit zwar boomen, aber dies ist Folge eines fiskalisch angeheizten Nachfrageschubs, der auch wieder abebben wird. Erst wenn wieder Vollbeschäftigung herrscht und die Konjunktur richtig heiss läuft, wird die Inflation, wenn überhaupt, zum Problem. Bis dahin ist es aber noch ein weites Stück. Ausserdem sehen wir derzeit keinen Anstieg der Preise auf breiter Front. Zu reden geben derzeit vor allem Holz, Metalle und natürlich Mineralölprodukte, wo es tatsächlich zu heftigen Aufschlägen kam.

Der Bauboom in China und den USA generiert derzeit eine Nachfrage, der die Produzenten noch nicht gewachsen sind, da die meisten nicht mit einer so raschen Erholung der Konjunktur gerechnet und die Kapazitäten coronabedingt gedrosselt hatten. Das gilt auch für Computerbestandteile. Die Produktion jetzt wieder hochzufahren, braucht Zeit, in der es logischerweise zu Preisaufschlägen infolge von Lieferengpässen kommt. Doch dürfte dieses Phänomen vorübergehender Natur sein, konkret noch so lange dauern, bis die Pandemie global besiegt ist. Mich machen die steigenden Preise nicht annähernd so nervös wie die Börsianer. Die sorgen sich auch weniger um die Preise als um die Zinsen. Die könnten ja vielleicht sogar wieder über Null steigen, wenn wir mal wieder etwas Inflation haben. Es ist schon unglaublich, wie uns die Geldpolitik mittlerweile eingelullt hat. Beim kleinsten Preisanstieg fallen wir schon fast in Ohnmacht und die Finanzmärkte beben. Dabei ist das, was derzeit passiert, nur normal, nachhaltig indes nicht. (Raiffeisen/mc/pg)

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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