Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Mangellagen

Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Mangellagen
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Vor gut zwei Monaten durfte ich bei der EKT, einem kantonalen Energieversorgungsunternehmen im Thurgau, einen Vortrag zum Thema «Inflation» halten. Ich war als Nichtenergiefachmann mehr oder weniger ein Exot an dieser Veranstaltung. Umso lehrreicher waren für mich Fachvorträge zum Thema Energieversorgung, und dabei nicht nur die technischen Aspekte dahinter. Vielmehr wurde ich hellhörig ob des Grundtenors sowohl der Stromhändler als auch der Überträger (Swissgrid AG).

von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

Der war eindeutig und bestimmt: Wir werden im Winter in einen Stromengpass hineinlaufen, wenn wir nicht rechtzeitig Vorkehrungen – welcher Art auch immer – treffen. Ich war in jungen Jahren einmal in einem grossen Berufsverband der Baubranche tätig und kam dabei erstmals auch mit professionellem Lobbying in Kontakt. Im Banking ist Lobbying ohnehin sehr verbreitet. Und so war ich doch eher skeptisch, ob diese Warnungen vor einem Stromengpass nicht etwa eigennützig sind.

Nach vertiefter Analyse der Situation am Schweizer Strommarkt musste ich indes eingestehen, dass es sich da nicht nur um Panikmache handelte, sondern viele Gründe tatsächlich dafürsprechen, dass wir uns mit besagtem Engpass beschäftigen sollten. Zudem hat sich angesichts des niederschlagsarmen Sommers die Lage seitdem eher nochmals verschärft. Der Trumpf der Schweiz, die Wasserkraft, seien es Lauf- oder Speicherkraftwerke, sticht in diesem Jahr kaum. Dazu kommen die derzeit pannenanfälligen Kernkraftwerke in Frankreich, der Mangel an Gas in Europa, vor allem aber, dass die Schweiz nach der Ablehnung des Rahmenabkommens mit der EU sich nicht darauf wird verlassen können, die Mangellage – was für eine Wortschöpfung! – so einfach mittels Stromimporten zu lösen. Es besteht schliesslich kein bindendes Abkommen mehr zwischen der EU und der Schweiz, welches den Stromverkehr regelt.

Nun da die Ferienzeit sich dem Ende zuneigt, ist nicht nur Bern aufgewacht. Auch in den Medien dominiert das Thema des Stromengpasses mehr und mehr. Das ist gut so, gestreng dem Motto «besser spät als nie», aber früher, und zwar viel früher, wäre dennoch besser, ja sogar angezeigt gewesen, wenn man sich vor Augen führt, wie schwierig es heutzutage hierzulande geworden ist, Grossprojekte in nützlicher Frist zu realisieren. Eine Prognose ist demnach schon mal sicher. Mittels Angebotsausweitung werden wir den sich akut abzeichnenden Stromengpass kaum überbrücken können. Und ob die EU, die wohl selbst mit Knappheit konfrontiert sein wird, ein paar Gigawatt für die Schweiz übriglässt, steht wie erwähnt völlig in den Sternen.

Diese Erkenntnis macht sich nun in der Schweiz breit, weshalb sich die Politik auch eher der Nachfrageseite zuwendet. Wir müssen schlichtweg den Verbrauch reduzieren und dies markant. Doch wie immer, wenn Ware knapp wird, beginnt ein Wettlauf um das knappe Gut, bei dem jeder nur an sich denkt. Branchenverbände, Konsumentenlobby, Grossunternehmen sind tunlichst bemüht, Prioritätenordnungen zu definieren, bei denen sie möglich nicht zu kurz kommen. Mangellage, das ist etwas, was die Schweiz, ein Land, in dem Milch und Honig fliessen, eigentlich gar nicht kennt. Dafür kommt es jetzt umso geballter.

Mangellage könnte zum Unwort des Jahres werden, denn es mangelt an allem. An Rohstoffen, Metall, Holz, Halbfabrikaten, Halbleitern/Chips und was sonst noch allem, doch am schlimmsten ist die Mangellage am Arbeitsmarkt, der boomt, wie seit gut 15 Jahren nicht mehr. Natürlich ist dafür auch der Post-Corona-Kickstart der Konjunktur verantwortlich, der Beinahe-Ausfall Chinas für die internationalen Lieferketten und ein aufgestauter Bedarf, der sich jetzt massiv entlädt, was eben an den internationalen Flughäfen besonders augenscheinlich wird, aber letztlich ist es auch der Drang zurück zur Normalität. Nur: Dunkelheit passt nicht zu dieser Normalität und schon gar nicht Frieren (bei 20 Grad?) in der Wohnung im Winter.

Vor längerer Zeit, als ich noch im Kanton Zürich wohnte, fiel nachts für etwa 20 Minuten der Strom aus, total. Diese Erfahrung ist mir heute noch in allerbester Erinnerung. Es war völlig dunkel, unheimlich zwar, aber irgendwie auch faszinierend. Man sah Taschenlampen in Wohnungen leuchten, manch fahles Licht, durch Kerzen wahrscheinlich, aber das war’s dann auch schon. Ich hatte glücklicherweise eine alte Campinggasleuchte im Haus und so sassen wir nicht ungemütlich am Tisch – Gesprächsstoff war ja gegeben – und harrten der Dinge, die da kommen würden. Bis der Spuk vorbei war. Danach brauchten wir eine gute halbe Stunde, um die ganze Elektronik im Haus wieder hochzufahren. Uhren stellen, WLAN hochfahren, Timer neu programmieren usw..

Der Stromunterbruch war natürlich nicht Folge einer Mangellage sondern Folge einer technischen Panne. Er führte mir aber eindrücklich vor Augen, wie abhängig wir von der Elektrizität sind. Strom fliesst eben nicht so einfach nur aus der Steckdose. Erst muss er mal produziert werden und dann auch dahin kommen. Besonders lehrreich war diese Erfahrung für meine Jungs zu Hause, die die dunkle Zeit nicht kennen. Als auf den Dörfern bei Leermond fast völlige Dunkelheit herrschte, Wohnräume nur schwach beleuchtet waren – die berühmten 25 Watt-Birnen – Strassenbeleuchtungen nicht gang und gäbe waren oder Leuchtreklamen nur aus dem Fernsehen (Tokio) bekannt waren. Die Schaufenster waren auch dunkel nachts und das Ganze hatte einen gewissen Charme. Ein bisschen Campingambiente, als man nachts noch mit der Taschenlampe zur Toilette stapfte, was ich besonders abenteuerlich fand. Lichtsmog? Fehlanzeige, das Wort gab es da noch gar nicht.

Was ich damit sagen möchte: Es geht sehr gut auch mit weniger (Licht). Würde der Strompreis sich an der Knappheit orientieren, die bekanntlich ihren Preis hat, würden wir sicherlich ganz anders mit der Elektrizität haushalten. Knappheit ist stets auch ein sanfter Zwang zum Sparen, was durchaus positiv zu werten ist in einer Gesellschaft, die im Überfluss lebt. Doch wo anfangen? Diese Diskussion ist jetzt immerhin lanciert und nimmt teils groteske Züge an. Vor allem wenn alle argumentieren, wieso gerade bei ihnen Einsparungen oder gar Kontingentierungen unmöglich seien.

Ich wünschte mir im Geheimen, es würde tatsächlich mal richtig eng. Das Potenzial von Einsparungen ist nämlich immens, würde aber nur dann auch etwas besser ausgeschöpft. Wahrscheinlich müssten wir nicht mal frieren, wenn wir nicht noch gleich die Umgebung mitheizen würden, weil wir das Kippfenster ganztags geöffnet haben und die Wohnung den ganzen Tag auf 22 Grad beheizt wird, obwohl wir vielleicht nur mal gerade 12 Stunden zu Hause sind. Würden in Belgien die Autobahnen nicht beleuchtet sein, gäbe es kaum mehr Unfälle. Denn statistisch besteht kein Zusammenhang zwischen Strassenbeleuchtung und Unfallhäufigkeit. Die Läden an der Bahnhofstrasse und sonst wo würden sicherlich keine Umsatzeinbussen erleiden, wenn die Schaufenster nachts nicht hell erleuchtet wären. Schauen Sie einmal selbst, wo es nachts überall hell ist, nicht zu sagen grell. Braucht’s das wirklich? Wir sind leider in einer Zeit angelangt, in der alles am besten so weiter gehen soll wie bisher. Denn Gewohnheiten ändert niemand gern, wie uns Corona gelehrt hat. Es sei denn, er muss. Im Winter ist es dann so weit, wir haben es selbst vergeigt.

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