«Föderale Systeme sind Experimentierräume für den nachhaltigen Staat»

«Föderale Systeme sind Experimentierräume für den nachhaltigen Staat»
Wie nachhaltige Ideen in den Kantonen umgesetzt werden, hängt wesentlich von Strukturen und geschickten Akteuren ab. (Bild: Adobe Stock / Unibas)

Basel – Massnahmen für mehr Nachhaltigkeit sind auch in Verwaltungen ein Thema. Wie funktioniert die «Vernachhaltigung» in den Schweizer Kantonen? Dieser Frage gingen Marius Christen und Basil Bornemann von der Universität Basel nach. Im Interview sprechen sie über die wichtigsten Erkenntnisse.

Wie sind die Schweizer Kantone beim Thema Nachhaltigkeit aufgestellt?

Marius Christen: In allen Kantonen spielt Nachhaltigkeit eine Rolle. Zum Teil sind Teams von fünf bis zehn Personen für Nachhaltigkeit verantwortlich, andernorts kümmert sich jemand in einem kleinen Pensum neben dem eigentlichen Aufgabenfeld auch noch darum. Daraus ergeben sich natürlich Unterschiede in den Handlungsmöglichkeiten, die ein Kanton hat. Wir nennen das «Kapazität für Nachhaltigkeits-Governance». Kantone mit einer hohen Kapazität verfügen über eine Fachstelle, die für Nachhaltigkeit verantwortlich ist. Auch die Vernetzung und der Aufbau von Fachwissen sind wichtige Aspekte: Die Verantwortlichen für Nachhaltigkeit vernetzen sich an nationalen und interkantonalen Veranstaltungen. Manche Kantone bieten ihren Mitarbeitenden auch Weiterbildungen im Bereich der Nachhaltigkeit an.

Woher entstehen Anreize für Verwaltungen für mehr Nachhaltigkeit?

Basil Bornemann: Die Initiative kommt oft aus der Verwaltung selbst heraus. Aber es geht zentral um das Zusammenspiel von Staat und Gesellschaft. Eine wichtige Frage dabei ist: Sollen der Staat und die Verwaltung Vorreiter sein oder soll der Auftrag zur Umsetzung aus Politik und Gesellschaft kommen? Darüber gibt es, auch in der Verwaltung selbst, verschiedene Auffassungen. Auch die internationale Ebene zieht Verpflichtungen nach sich, etwa die in 2015 in Paris verabschiedete Agenda 2030. Die Schweiz hat diese ratifiziert. Legitimationsgrundlagen wie diese sind wichtig. Sie bilden zugleich einen wichtigen Orientierungsrahmen für das Handeln von Verwaltungsakteuren.

Wie lässt sich messen, wie nachhaltig eine Verwaltung ist? Gibt es Erhebungen wie CO2-Kompensationsmassnahmen, Biodiversitätsförderflächen oder Solaranlagen auf öffentlichen Gebäuden?

Marius Christen: Solche Faktoren könnte man tatsächlich auswerten, etwa anhand von Zahlen des Bundes und der Kantone. Wir haben uns jedoch die Nachhaltigkeits-Governance angeschaut, also Strukturen, Prozesse und Praktiken, um nachhaltiges Handeln vorzubereiten und umzusetzen.

«Es sind Konstellationen, die dazu führen, dass bestimmte Handlungspfade beschritten werden oder eben nicht.»

Marius Christen, Nachhaltigkeitsforscher

Wie kann man sich das konkret vorstellen?

Marius Christen: Kurz gesagt geht es um das Potenzial, Handeln im Sinne der Nachhaltigkeit auf den Weg zu bringen. Das lässt sich schwieriger messen oder beziffern. Es sind Konstellationen, die dazu führen, dass bestimmte Handlungspfade beschritten werden oder eben nicht. Hat ein Kanton eine Fachstelle für Nachhaltigkeit? Wo ist diese innerhalb der Verwaltung angesiedelt? Ist sie nahe an Entscheidungsgremien und wird sie miteinbezogen?

Solche Institutionen sind ein wichtiges Instrument zur Gestaltung Richtung Nachhaltigkeit. Wenn Entscheidungsträgerinnen und –träger Gestaltungsräume gewähren, kann etwas entstehen. Auch ein konsolidiertes und umfassendes Verständnis von Nachhaltigkeit innerhalb der Verwaltung ist eine wichtige Basis. Wir haben in unserer Analyse auch festgestellt, dass eine klare Nachhaltigkeitsstrategie ein wichtiger Faktor ist.

Ist der Föderalismus für die «Vernachhaltigung» ein Vorteil oder wäre es besser, wenn es nationale Lösungen gäbe?

Basil Bornemann: Föderale Systeme sind Experimentierräume. Die Kantone nutzen diesen Raum, die kantonalen Stellen tauschen sich untereinander aus und lernen voneinander. Das ist ein Vorteil. Die Autonomie kann zudem helfen, neue Wege auszuprobieren. Darin liegt Innovationspotenzial. Die Kantone wünschen sich vom Bund jedoch Richtlinien, an denen sie sich orientieren können. Im Übrigen findet die Umsetzung von Ideen auch auf Gemeindeebene statt. Diese haben wir allerdings nicht untersucht.

«Wir haben keinen Unterschied gefunden zwischen Stadt und Land oder zwischen konservativen und progressiven politischen Mehrheiten.»

Basil Bornemann, Nachhaltigkeitsforscher

Bei Abstimmungen über Klimavorlagen gibt es jeweils Unterschiede zwischen ländlichen und urbanen Gebieten. Spiegelt sich das auch in den Verwaltungen wider?

Basil Bornemann: Wir haben keinen Unterschied gefunden zwischen Stadt und Land oder zwischen konservativen und progressiven politischen Mehrheiten. Entscheidender sind historische Gegebenheiten: Wer früh begonnen hat, Grundsätze für Nachhaltigkeit zu implementieren, ist heute weiter.

Vernachhaltigung ist häufig auch von einzelnen Akteuren getrieben. Sie können einen Unterschied machen, auch in eher konservativen Kantonen.

Es spielt also auch eine gewisse Zufälligkeit mit?

Basil Bornemann: Genau! Das zeigt sich etwa im Kanton Wallis. Im Rahmen der Bewerbung für die Olympischen Winterspiele 2002 verpflichtete sich der Kanton, sich um Nachhaltigkeit zu kümmern. Eine dafür gegründete Stiftung fördert seither Massnahmen für Nachhaltigkeit, auch in der kantonalen Verwaltung. Damit gibt es im Wallis einen engagierten Akteur, der die Vernachhaltigung der Verwaltung von aussen vorantreibt. Das ist in dieser Form einmalig in der Schweiz. Entsprechend gut steht der Kanton Wallis in unserer Analyse da.

Nachhaltigkeit wird häufig gleichgesetzt mit Ökologie. Ist das in den Verwaltungen auch der Fall?

Marius Christen: Wir fanden, dass die Nachhaltigkeitsfachstellen generell eine breit ausgelegte Auffassung von Nachhaltigkeit haben im Sinne der drei Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales. Eine breite Themenvielfalt ist auch wichtig, denn sie ist anschlussfähiger als eine rein ökologische Interpretation von Nachhaltigkeit. Aber Klimathemen spielen natürlich eine grosse Rolle. Ihre Dringlichkeit ist auch eine Chance, Dinge auszuprobieren und in die Breite zu bringen.

Welche Empfehlungen lassen sich nun aus Ihren Erkenntnissen ableiten?

Marius Christen: Eine Best Practice gibt es nicht. Und Entwicklungspotenzial gibt es überall. Was man aber sagen kann: Wichtig sind Gestaltungsräume und «Change Agents», die gestalten wollen. Diese sollten strategisch geschickt handeln, also ein Gespür dafür haben, wann die Zeit reif ist für gewisse Dinge, indem sie politische und gesellschaftliche Dynamiken verfolgen. Zudem braucht eine Fachstelle Sichtbarkeit. Sie sollte eine koordinierende Funktion haben und unterstützend wirken, nicht als Moralapostel auftreten. Dienstleistungsorientiertes Agieren weckt Interesse und den Bedarf bei anderen Dienststellen wie zum Beispiel der Raumplanung, die Nachhaltigkeitsleute miteinzubeziehen. Auch Netzwerke innerhalb der Verwaltung sind wichtig, sowohl auf formeller als auch auf informeller Ebene. Es ist immer ein Zusammenspiel von motivierten und geschickt agierenden Akteuren und Strukturen, das letztlich den Unterschied ausmacht.

Wo stösst staatliche Nachhaltigkeit an Grenzen?

Basil Bornemann: Legislaturzyklen können einen Einfluss haben. Diese erschweren mitunter die langfristige Perspektive. Und auch hier spielen die individuellen Akteure in der Verwaltung eine Rolle. Nicht alle wollen Kompetenzen und Anerkennung mit anderen teilen. Zudem sind Suffizienzpolitiken verminte Felder. Sie widersprechen der liberalen Gesellschaft und den Wachstumsimperativen der Wirtschaft. Spätestens hier wird deutlich, dass die Verwaltung in ihren Versuchen der Vernachhaltigung an gesellschaftliche und politische Grenzen stösst. (Universität Basel/mc/ps)

Zum Projekt
Das Forschungsprojekt «Sustainabilization of the State – Forms, Functions and Formation of Sustainability Governance in Swiss Cantons» ist vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert. Mit ihrer Analyse wollten die Forschenden erfahren, ob und wie die UN Agenda 2030 mit ihren Sustainable Development Goals (SDGs) in das Agieren von Verwaltungen Eingang findet.
Die Forschenden haben dabei alle 26 Kantone erfasst und sieben Kantone im Detail untersucht. Neben der Analyse von Dokumenten führten die Forschenden Interviews mit den Personen, die in den kantonalen Verwaltungen arbeiten, und diskutierten in transdisziplinären Workshops mit ihnen sowohl über Ergebnisse als auch über praktische Handlungsempfehlungen.
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Universität Basel

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