Meret Schneider: Populismus und die Grenzen des Sagbaren

Meret Schneider: Populismus und die Grenzen des Sagbaren
Meret Schneider, Nationalrätin von 2019 bis 2023, Grüne Schweiz. (Bild: zVg)

Lange habe ich überlegt, ob ich diesem Thema einen Artikel widmen soll. Wäre es nicht sinnvoller, den Vorfall nicht weiter mit Bedeutung aufzuladen, die ihm nicht zukommt? Doch ich habe mich entschieden, die Thematik noch einmal aufzugreifen, weil die Geschichte tatsächlich nicht für sich steht, sondern über sich hinaus weist und sich für mich als Lehrstück und Stein des Gedankenanstosses erwies.

Es begann mit einem Twitterbeitrag von Massvoll-Aktivist Nicolas Rimoldi. Er forderte darin, dass das verdeckte Tragen von Waffen ohne Waffenschein in der Schweiz legalisiert werden sollte, um sich in Notwehr verteidigen zu können. Dieser Tweet wurde im Rahmen eines 1. April-Scherzes von einem anderen Twitter-User aufgegriffen und satirisch kommentiert. Auf diesen Tweet reagierte ich mit den Worten: “In Notwehr erstech’ ich Rimoldi auch mit einem Sackmesser» –  in ironischer Bezugnahme auf seine Argumentation, Waffen für den Fall einer Notwehr-Situation tragen zu wollen. War diese Replik meinerseits wohlüberlegt? Nein. War sie taktvoll? Mit Sicherheit nicht. Aber absolut offensichtlich war es ein ironischer Kommentar auf einen Aprilscherz über die ernstgemeinte (!) Forderung Rimoldis nach verdecktem Tragen von Waffen.

Was dann geschah, warf mich noch für Wochen aus der Bahn: Nicolas Rimoldi drohte mit einer Strafanzeige und 20 Minuten griff meinen Kommentar in einem Artikel auf, mit der Headline “Erstech’ Rimoldi mit dem Sackmesser”. Das «In Notwehr» wurde gekürzt und der satirische Kontext nur im Laufe des Artikels erwähnt. Es folgte Blick mit einem ähnlichen Artikel und die Situation eskalierte: Ich wurde mit Hasszuschriften, Mails und Drohungen überhäuft, wie ich es zuvor noch nie erlebt hatte. Erst auf meine Intervention hin korrigierte 20 Minuten das verkürzte Zitat, doch der Schaden war angerichtet, die Screenshots kursierten.

Noch Wochen später wurde ich auf offener Strasse angesprochen, in Mails aufs Übelste beleidigt und meine Worte wurden ernsthaft als Morddrohung verstanden, was in Anbetracht der Aufmachung der journalistischen Glanzleistung (Achtung, ich habe nun gelernt, Ironie zu kennzeichnen) auch nicht erstaunte. Das Ziel war erreicht: der Artikel  wurde geteilt und kommentiert was das Zeug hielt und in den Kommentarspalten überschlugen sich die Wutbürger*innen ob der sogenannten Morddrohung meinerseits – es war eine Klickbaitparty, wie sie fulminanter nicht hätte sein können. All dies ist nun nicht eben erschütternd, ich kenne solche Dynamiken bestens. Erschüttert hat mich einzig die Tatsache, dass weder im Blick- noch im 20 Minuten – Artikel Empörung aufkam ob der Forderung, verdeckt Waffen tragen zu dürfen. Schliesslich war diese tatsächlich ernst gemeint und als solche durchaus als extremistisch einzuordnen, doch darüber keine Silbe. Und einmal mehr wurde mir bewusst, welche Macht Medien mit ihrer Deutungshoheit haben, und wie schnell sich die Grenzen des Sagbaren in Richtung Extremismus verschieben, ohne dass jemand Einhalt gebietet oder es auch nur merkt. Solche Forderungen sollten wir nicht unkommentiert stehen lassen im Bemühen, einzig affektheischenden Journalismus zu betreiben. Denn eine Gesellschaft, in der eine Forderung nach verdeckten Schusswaffen salonfähig ist, ist definitiv auf dem Weg zu einer Akzeptanz immer extremistischerer, gefährlicherer Forderungen und es ist an uns, auf diesem Weg rechtzeitig andere Weichen zu stellen. Führen wir uns das vor Augen und prüfen wir die Rhetorik exponierter Personen auch und gerade im Wahlkampf genau. Schnell driftet eine politische Forderung oder ein Statement in den sozialen Medien in Richtung Extremismus oder Rassismus ab, und es ist an uns, dies klar zu benennen und zu sanktionieren. An jedem und jeder von uns Lesenden.


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