Rohstoff-Ausblick 2022: Energiepreise werden weiter steigen

Rohstoff-Ausblick 2022: Energiepreise werden weiter steigen

von Michel Salden, Head of Commodities, Vontobel

Zürich – Im Zuge der Energiekrise, vor der die Welt aktuell steht, wurden Energierohstoffe als Hauptschuldige für den drohenden längerfristigen Inflationsdruck ausgemacht. Mögen einige Marktbeobachter auch auf baldige Entspannung hoffen: Die Wahrscheinlichkeit anhaltender Preissteigerungen bei zahlreichen Energierohstoffen ist hoch.

Hierfür gibt es drei wesentliche Gründe.

Die Nachfrage nach Öl und Gas wird kurz- bis mittelfristig weiter steigen
Da viele Staaten angesichts hoher Schuldenberge in absehbarer Zeit keine grossen Zinsschritte verkraften können, werden die Zentralbanken den Realzins aller Wahrscheinlichkeit nach negativ halten. Niedrigzinsen in Verbindung mit einer starken zyklischen Erholung nach der Pandemie sprechen aber für eine hohe Rohstoffnachfrage weltweit.

Aktuell hat die chinesische Wirtschaft insbesondere im Immobiliensektor mit einer deutlichen Abkühlung zu kämpfen, was die Nachfrage nach Stahl, Zement und anderen Grundstoffen belastet hat. Doch im kommenden Jahr dürfte sich der schwächelnde Immobiliensektor langsam erholen, die Exportstärke anhalten und die Konjunkturprogramme dürften wieder aufgenommen werden, was der Volksrepublik ein verhaltenes, aber anhaltend solides Wachstum bescheren dürfte. Darüber hinaus hat das Wachstum in den meisten Schwellenländern – den grössten Rohstoffverbrauchern – aufgrund schleppender Impfkampagnen das Vorkrisenniveau noch nicht wieder erreicht.

Logistische Engpässe und gestörte Lieferketten sorgen für zusätzlichen Druck. Dies gilt insbesondere für die Energienachfrage, da die gesamte Logistik mit ihrem Strassen-, Schienen- und Luftverkehr rund um die Uhr am Kapazitätslimit arbeitet und dabei fossile Kraftstoffe verbraucht. Sobald der internationale Luftverkehr sich vollständig erholt hat, wird die Nachfrage nach Öl im vierten Quartal mit rund 100 Millionen Barrel pro Tag wieder den Stand von 2019 erreichen. Tatsächlich könnten (geimpfte) internationale Reisende in wenigen Monaten für einen sprunghaften Anstieg der Nachfrage um 500 000 Barrel pro Tag sorgen. Andere Nachfragefaktoren (Strassenverkehr, Logistik, Petrochemie, Heizenergie) liegen bereits über dem Niveau von 2019. Schliesslich dürfte aufgrund des im Vergleich zu Gas und Kohle niedrigen Ölpreises an den asiatischen Märkten ein Teil des Heizenergiebedarfs durch Öl statt durch Gas und Kohle gedeckt werden.

Öl und Gas sollen den Übergang zu erneuerbaren Energien ermöglichen
Öl und – in noch grösserem Umfang – Gas werden weiterhin als Brückenenergieträger dienen, bis der Marktanteil erneuerbarer Energien den Energiehunger einer wachsenden Weltbevölkerung abdecken kann. Bis dahin wird die Nachfrage nach Öl und Gas in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren in absoluten Zahlen zunehmen, da der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht mit der Zunahme des Rohstoffverbrauchs Schritt hält. Darüber hinaus planen die meisten Nicht-OECD-Länder einen Kohleausstieg unter Einsatz von Öl und Gas, was die Nachfrage ebenfalls vergrössert. Noch schwerer wiegt, dass der Ausbau der Infrastruktur für erneuerbare Energien (beispielsweise Windparks und Stromnetze) in der Bauphase äusserst energieaufwendig ist, was die Energienachfrage weiter befeuern wird.

Eine globale Investitionslücke bei der Energieinfrastruktur begrenzt die Versorgungskapazität
Die globale Öl- und Gasbranche investiert nicht genug in die herkömmliche Energieinfrastruktur und wird künftig nicht in der Lage sein, auch nur die aktuelle Fördermenge zu gewährleisten. Derzeit beträgt die durch Desinvestitionsrichtlinien und ESG-Druck auf westliche Ölfirmen bedingte Investitionslücke mehr als USD 300 Milliarden pro Jahr. Folglich ist nur die OPEC+ in der Lage, die Förderkapazitäten zu erhöhen. Allerdings dürfte das Kartell mit der aktuellen monatlichen Steigerung der Fördermenge (+0,4 Millionen Barrel pro Tag) bis September 2022 an seine Kapazitätsgrenze stossen. Dann wird die OPEC+ rund 48 Millionen Barrel pro Tag fördern – ohne Kapazitätsreserven für ungeplante Förderausfälle und Infrastrukturengpässe.

Der strukturelle Nachfragedruck wird sich auch auf Nicht-OPEC-Länder auswirken. In der Vergangenheit trat der US-Schieferölsektor als Randerzeuger auf, sobald der Ölpreis die Breakeven-Förderkosten von USD 50–60 überschritt. Auf diese Weise erhöhte er das Marktangebot um 5 Millionen Barrel pro Tag. Allerdings sind die Schieferölförderer zurückhaltender geworden: Sie zielen nicht mehr auf grösstmögliche Förderung ab und zeigen keine Investitionsbereitschaft, obwohl Öl derzeit zu USD 80 pro Barrel gehandelt wird. Dies ist hauptsächlich auf ESG-Druck und politische Ungewissheit zurückzuführen.

Ölpreis könnte bis Ende 2022 USD 100 erreichen
Aufgrund von steigender Nachfrage, rückläufigen Fördermengen und schwindenden Lagerbeständen bewegt sich der Ölpreis bis Ende 2022 auf die Marke von USD 100 zu. Nur neue Pandemiewellen oder die – unwahrscheinliche – Aufhebung der US-amerikanischen und europäischen Sanktionen gegen den Iran, die dem globalen Markt iranisches Öl im Umfang von 1,6 Millionen Barrel pro Tag zuführen würde, könnten ein Erreichen der 100-USD-Marke verhindern. Auch der Ausblick für Gas ist positiv. In den vergangenen zehn Jahren war Erdgas eine Belastung für Rohstoffindizes (schlechteste Performance im Energiebereich), lieferte in diesem Jahr allerdings positive Beiträge (+90 Prozent). Künftig dürften Erdgas und Flüssiggas (LNG) in Asien im Zuge des Kohleausstiegs eine wichtige Rolle als Übergangsrohstoffe spielen. Zudem werden die USA ihre LNG-Exporte in den kommenden Jahren steigern, da die internationalen Exportmärkte mittlerweile höhere Preise akzeptieren als Binnenverbraucher in den USA. Da die USA nicht in die Gasspeicherung expandieren und die Steigerung der Fördermenge aus den gleichen Gründen wie beim US-Schieferöl stagniert, sind die Märkte volatiler als je zuvor. Die aktuellen Gaspreise basieren mehr auf dem winterlichen Wetter, doch für das kommende Jahr winkt US-Gas ein Aufwärtspotenzial von mehr als 30 Prozent, sofern keine weiteren Förder- und Speicherkapazitäten hinzukommen und das Wetter schlechter wird. (mc/pg)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert