Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Die alten (1-10) Zehn des neuen Jahrzehnts

Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Die alten (1-10) Zehn des neuen Jahrzehnts
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

St. Gallen – Jeden Jahresauftakt hören wir, was sich alles ändern wird. Dabei steht in den Sternen, was uns 2020 konkret alles erwartet. Man kann aber mutmassen, dass uns bzw. unsere Wirtschaft auch im neuen Jahrzehnt zehn Dinge weiter begleiten werden. Das ist zunächst dieses Mädchen aus Schweden, das den Erwachsenen im vergangenen Jahr schon das eine oder andere Dilemma beschert hat.

Die Gretchenfrage (1) wird auch 2020 in Familien, aber nicht nur dort, zu Diskussionen führen, ob man noch einigermassen guten Gewissens einen Städteflug buchen kann – von wegen Flugscham. Führt dieser dann nach Barcelona oder Venedig stellt sich rasch auch mal die Frage des Overtourism (2). Dafür muss man heute gar nicht mehr in die Ferne schweifen, ein Augenschein in Interlaken, Luzern oder auf dem Titlis genügt. Im vergangenen Jahr bekamen wir einen kleinen Vorgeschmack dessen, was uns da noch droht, als die Reisegruppe der Kosmetikfirma Jeunesse Global auf einen Schlag 4‘000 chinesische Besucher nach Luzern lotste – in 95 Reisebussen, Kreuzfahrtdimensionen. Insgesamt umfasste die Reisegruppe 12‘000 Personen. Sie mussten in drei Wellen durch die touristischen Hotspots geschleust werden.

Nicht dass Donald Trump (3) auch hierzu eine Meinung twittern dürfte, aber er wird sonst für Unruhe sorgen, was er zum Jahresauftakt auch schon getan hat, indem er den iranischen General Soleimani töten liess. Es wird nicht nur dabei bleiben, denn Trump ist auf kurzfristige positive Schlagzeilen aus und wird gezielt in weitere Fettnäpfchen trampeln. Das Pulverfass Naher Osten (4) wird im laufenden Jahr ebenfalls die Schlagzeilen füllen. Der Krieg in Syrien geht ins zehnte Jahr, der in Jemen wird bald fünf, Israel wird lieber seine umstrittene Siedlungspolitik fortsetzen als auch nur die kleinste Versöhnung mit den Palästinensern anzustreben.

In Europa wird die neue EU-Kommissonspräsidentin von der Leyen zwar manches anders machen als ihr Vorgänger, etwa besucht sie demnächst Grossbritannien, das ihr Vorgänger eher grosszügig umfahren hatte. Besser wird es dadurch aber nicht in Europa. Ein vereintes Europa (5) ist noch in genau so weiter Ferne, wie vor fast zehn Jahren, als die Schuldenkrise ausbrach. Das Stichwort, mit dem wir uns der Wirtschaft zuwenden können. Exorbitante Staatsschulden (6) bleiben zuoberst auf der Agenda der Politik, nur wird sich diese keinen Deut darum scheren. Solange die Finanzmärkte aber still halten, wenn sich nichts tut oder selbst applaudieren, wenn die Schulden – wie nach der US-Steuerreform – weiter aus dem Ruder laufen, wird kaum eine Regierung ernsthaft die Konsolidierung der Staatsfinanzen vorantreiben.

Die Politik träumt wohl noch immer von einem Boom der Weltwirtschaft und steigender Inflation, das bewährt schmerzlose Mittel, die realen Staatschulden etwas zu reduzieren. Das schwache globale Wachstum (7) wird auch 2020 dazu kaum genügen. Es wird ungefähr so tief ausfallen wie 2019. Vielleicht sollten wir wirklich langsam ernst machen und unseren Wohlstand anders messen als wir das heute noch mit einer in die Jahre gekommenen nationalen Buchhaltung tun. Dasselbe trifft auf die Inflation (8) zu, die auch 2020 diesen Namen nicht mehr verdient, denn die (gemessenen) Preise werden kaum steigen, wie schon die ganze Dekade davor. Und damit ist auch der Weg weiter frei für Nullzinsen (9) rund um den Erdball.

Für die Schweiz bedeutet dies nicht Null sondern Minus, den Negativzins (10) werden wir auch im laufenden Jahr nicht los, denn die Geldhüter werden 2020 kaum kritisch hinterfragen, ob ihre expansive Geldpolitik tatsächlich zielführend ist und zu unerwünschten Nebenwirkungen führt. Was wirklich anderes wird 2020 – zumindest für uns in Europa – ist der Modus der Fussball-Europameisterschaft. Erstmals findet die EM in 12 verschiedenen Ländern statt. Man spielt unter anderem in Baku oder Bilbao – Distanz gut 60 Autostunden und 5‘500 Kilometer. Diese Pendlerveranstaltung dürfte Greta gar nicht behagen.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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