Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Konsensausrede

Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Konsensausrede
von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen. (Foto: Raiffeisen)

Kennen Sie noch die häufigste Ausrede aus Ihrer Kindheit, wenn Sie etwas ausgefressen hatten und dabei erwischt wurden? „Aber die anderen haben das doch auch gemacht“! Bei mir nützte das nichts. Mein Vater pflegte zu entgegnen, es sei ihm egal, was die anderen tun oder lassen. Recht hatte er, aber das habe ich erst viel später begriffen. Als Ökonom versteckt man sich auch gern hinter den anderen. Eigenständige Meinungen trifft man eher selten an und wenn doch, manövriert man sich damit rasch ins Abseits.

Man ist eventuell kurz gut für Schlagzeilen, denn Widersprüche verkaufen sich medial gut, wird danach aber meist nur noch belächelt. Die Medien fragen, wieso man mit seiner Prognose eigentlich so viel höher oder tiefer liege als andere Institute. Allein schon durch die Formulierung der Frage wird der Befragte zum „Contrarian“, zum Querdenker oder Querulanten gestempelt. Abweichler haben sofort Erklärungsnotstand, Konsensschwimmern passiert das nicht. In den gut dreissig Jahren, die ich jetzt im Prognosegeschäft tätig bin, schielte und schielt man drum stets mit einem Auge auf die Konkurrenz.

Was sagen UBS, Credit Suisse oder das KOF (Konjunkturforschungsinstitut der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich)? Wo liegt die Basler Arbeitsgruppe für Konjunkturfragen (BAK Basel)? Bei jeder Prognoserevision in der Schweiz spielte die „Konkurrenz“ eine Rolle, neben dem Datenkranz und den quantitativen Modellen, die übrigens viel einfacher daher kommen als die Branche jeweils vorgibt und oft nur in der Vergangenheit ähnliche Zyklen suchen, um daraus die Zukunft zu extrapolieren. Die fatale Annahme aller Modelle ist die Unterstellung, es wiederhole sich alles wieder. Man argumentiert, schon einmal Werte wie die aktuellen gesehen zu haben, was damals dazu führte, dass die Zinsen sanken oder die Inflation. Die Modelllogik prognostiziert dann ebenfalls sinkende Zinsen oder eine tiefere Inflationsrate.

Das ist bei weitem kein Schweizer Phänomen, sondern weltweit anzutreffen. Für Deutschland zum Beispiel gibt es eine sogenannte ewige Prognostikertabelle. Seit 2002 wertet das Verbraucherportal ftd.de (finanzen.tipps.diskussionen) Prognosen für die deutsche Wirtschaft aus. Das Ergebnis ist sehr ernüchternd, nicht zu sagen vernichtend. Die durchschnittliche Platzierung des besten Prognoseinstitutes unter insgesamt gut 50 Instituten über alle Jahre gerechnet ist Rang 15. Das beste Institut mag in manchen Jahren also Top, manchmal unter den ersten zehn Instituten platziert gewesen sein, aber offenbar auch manchmal ziemlich danebengelegen haben. Oder es war weit abgeschlagen. Solche Auswertungen schätzen Wirtschaftspropheten gar nicht und verweisen dann stets auf die Unvergleichbarkeit von Prognosen. Wie hier schon einmal beleuchtet, ist da was dran, aber das macht es nicht besser. Prognosen sind ein Ding der Unmöglichkeit.

Wem vertrauen?
Soll ich in Deutschland jetzt auf den Sieger im Langfristvergleich setzen? Wohl kaum, denn was, wenn der genau in dem Jahr, in dem ich das tue, noch ärger daneben liegt als die Konkurrenz? Dann wählt man doch besser den Konsens. Consensus Forecast beispielsweise fasst weltweit Prognosen von mehr als 700 Ökonomen zusammen und berechnet daraus einen Durchschnitt, den sogenannten Konsens. Für die Schweiz macht dies das KOF im vierteljährlichen Rhythmus. Das lustige daran: Auch an diesem Mittelwert, zu dem sie selbst beisteuern, messen die Institute wiederum ihre eigenen Prognosen. „Wir liegen nahe am Konsens“ ist eine Art Alibi, weil man sich mitten im Strom bewegt. Das Gute daran. Sollte der Konsensus sich irren, dann ist man nicht allein. Das erinnert wieder an die Kindheit: „Die anderen lagen ja auch alle daneben“.

Die ewige Zinswende
Leider musste auch ich mich diesem Konsens immer wieder beugen. Denn auszuscheren war nie gefragt in der Branche. Das birgt mehr Risiken als Chancen. Entweder man ist blamiert wegen einer völlig falschen Prognose und damit fast disqualifiziert, weil einem das lange nachhängt oder bestenfalls kurz gerühmt, wenn sich eine gewagte Prognose kurz bewahrheitet hat. Die sogenannte „starke Meinung“, die man zu etwas hat, kann durchaus dazu führen, dass man mal etwas aus dem Konsens ausschert. Aber allzu weit tut man dies nicht, denn sonst wird das zu einem Berufsrisiko. Denn man kann sich nicht mehr hinter all den anderen verstecken, die zwar auch schlecht, aber nicht völlig daneben lagen. Es gibt zwei Klassiker für mich, denen ich mich nicht mehr beugen möchte. Die bald wieder erscheinende hohe Inflation und die oft zitierte Zinswende. Beide werden mittlerweile bald schon zehn Jahre alt. Und beide werden jeweils um ein zwei Jahre nach hinten verschoben, wenn sie sich nicht zeigen.

Könnte es sein, dass die Zinswende gar nie mehr kommt und die Inflation auch nicht, weil sie nur noch auf Vermögenswerte durchschlägt, nicht aber auf die Realwirtschaft? Das ist mein Hauptszenario. Mann tritt ja mal irgendwann in Vaters Fussstapfen. Das sei hier wenigstens mal leise festgehalten. Ach ja, den Immobiliencrash hatte ich noch vergessen, der hat auch schon einige Jahre auf dem Buckel und wird noch zum Greis. Davor kachelt es wo anders, wenn ich nur wüsste wo.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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