Unbekannte Abruzzen, unfassbarer Campo Imperatore
Unsere diesjährige Reise in die Abruzzen ist eine bewusste Reise in ein uns unbekanntes Italien. Nicht die bekannten, aber deswegen nicht minder betörenden Klischees sollten verfestigt werden, also nicht abgelegene Strände mit berührenden Sonnenuntergängen, nicht die kleinen, dem dolce vita frönenden Dörfer und Städte (ist wegen Corona erst jetzt langsam wieder erlebbar), sondern die Abruzzen, die ansonsten eigentlich fast nur wegen Erdbeben internationale Beachtung finden.
Wir haben uns für die Annäherung an diese raue, gebirgige, oft sehr urtümliche und kaum besiedelte Landschaft viel Zeit gelassen, zuerst die Küste südlich von Pescara noch ganz ohne Touristen genossen, dann die Majella erwandert und mit dem Fahrrad erkundet, uns nochmals in kleinen traditionellen Dörfern und dem kleinstädtischen Sulmona kulturell und kulinarisch umsorgen lassen, bevor wir den Schritt auf die karge Hocheben wagten.
Das langsame Herantasten hat den Vorteil, dass wir uns fast drei Wochen auch schrittweise daran gewöhnen, in unserem Haus auf vier Rädern und knapp 10 Quadratmetern einzuleben, einen Rhythmus für uns und Platz für die Dinge, die wir täglich benötigen, zu finden. So wird aus dem anfänglichen Suchen, Verlegen, Neuordnen, sich aneinander Vorbeidrängen ein gut eingespieltes Bewegungsmuster für Kaffee zubereiten, duschen, kochen, Fahrräder vorbereiten, E-Mails beantworten. Ein unspektakuläres Ballet des Alltäglichen, ohne das jeder Tag nur holprig über die Bühne ginge. Daneben bleibt so genügend Zeit für das Planen der nächsten Touren, Einkaufen, Suchen des nächsten Übernachtungsplatzes, der nächsten Trinkwasserquelle und das Wichtigste: Für Wanderungen und Fahrradtouren.
Im Herzen der Abruzzen
Das Herz der Abruzzen ist die Hochebene des Campo Imperatore. Um uns ihm gebührend zu nähern, übernachten wir im traumhaft gelegenen Santo Stefano di Sessanio. Auch hier haben Erdbeben, wie in vielen Orten der Abruzzen, sichtbare Schäden hinterlassen. Der Turm über dem Dörfchen wird gerade saniert, ebenso einige beschädigte Gebäude. Das Leben nimmt ausserhalb der Hauptsaison und zu Beginn der neuen Freiheiten nach der Pandemie einen sehr gemächlichen Gang. Als einzige Gäste im kleinen „La Bettola di Gepetto“ werden wir mit einfachen, aber hervorragend gemachten vegetarischen Antipasti, Safran-Ravioli und Linsen verwöhnt. Einfachste, beste Zutaten, mit Sorgfalt verarbeitet, raffiniert zusammengestellt.
Auf die Hochebene gelangen wir am nächsten Tag mit den Fahrrädern über die Kehren hoch und am kleinen Lago Racollo vorbei. Der erste Anblick der Gebirgskette am Rande der zuerst hügeligen, dann flachen, unter den Wolken in verschiedensten Grüntönen schimmernden Hochebene auf 1‘600 Metern über Meer lässt uns sprachlos und staunend minutenlang verharren.
Der Dalai Lama soll beim Anblick dieser Landschaft in Tränen ausgebrochen sein, da sie ihn so sehr an seine Heimat erinnerte (se non è vero, è ben trovato). Die Gegend im Herzen Italiens ist so unwirklich, leer, einsam, erhaben, dass man zögert, sie zu betreten, um die Ruhe, die Ausgewogenheit, nicht zu stören. Wir tun es natürlich trotzdem, erleben die Fahrt durch eine grossartige und grosszügige Kulisse, wie es sie nur noch sehr selten gibt.
Auf dem Rüchweg machen wir nach Castel del Monte in Calascio Halt, nehmen zusätzliche 300 Höhenmeter auf uns, um die achteckige Kirche Chiesa di Santa Maria (ein Bild der Kirche fehlt in keinem Reiseführer der Abruzzen) und die imposante Anlage des Castello di Rocca Calascio zu besuchen. Die Kirche ist leider verschlossen, dafür eröffnet sich eine betörende Sicht in die Umgebung.
Wolkendrama am Monte Camicia
Das Wetter ist mit wenigen Ausnahmen schön am Morgen, zunehmend bedeckt gegen Nachmittag, zwischendurch mit Regen am Abend. Entgegen meinem bevorzugten Lebensrhythmus mit ausschlafen, frühstücken, arbeiten, Vorbereitungen treffen, kurze Siesta und dann eine Tour, heisst es also nun Tour am morgen, dann den Rest. So fahren wir am Abend zu einem einsamen Platz auf den Campo Imperatore, möglichst nahe am Berg, den wir uns als Ziel für den nächsten Tag ausgesucht haben: Der Monte Camicia, mit 2‘564 Metern der höchste Gipfel der südlichen Erhebungen des Campo Imperatore (im Norden ist es der Corno Grande mit 2‘912 Metern, wobei man dort bis Madonna Della Neve auf 2‘100 Meter hochfahren kann).
Am nächsten Morgen machen wir uns zeitig auf den Weg zuerst in Richtung Monte Siella, den wir aber aus zeitlichen Gründen rechts liegen lassen, auf der Krete zum ersten Gipfel, dem Monte Tremoggia (2‘331 Meter) und dann hoch dem Hang entlang zum Monte Camicia. Wie erwartet ziehen nach anfänglichem Sonnenschein Wolken und Nebenschwaden auf und sorgen für ein eindrückliches Drama in den imposanten Felsformationen. Der Rückweg führt auf direktestem Weg steil nach unten zum Ausgangspunkt zurück.
Mussolinis fast gescheiterte Befreiung bei der Operation Eiche
Die nächste Nacht verbringen wir unterhalb der Bergstation und der Wolkendecke des Campo Imperatore. Die Bergstation mit dem Hotel “Campo Imperatore” war Schauplatz des “Unternehmens Eiche” zur Befreiung des gestürzten Benito Mussolini aus italienischer Gefangenschaft durch die deutsche SS unter Führung von Otto Skorzeny. Skorzeny selbst brachte das Unternehmen fast zum Scheitern, da er unbedingt im selben Leichtflugzeug wie Mussolini sitzen wollte und damit das Flugzeug überladen war und beinahe beim Start abstürzte. Das Unterfangen gelang, Mussolini konnte auf den Militärflugplatz Pratica di Mare ausgeflogen und von dort via Wien und München in Hitlers Hauptquartier Wolfsschanze in Rastenburg (Ostpreussen) gebracht werden.
Die an sich einfache Wanderung zum wolkenverhangenen Corno Grande ersparen wir uns und fahren runter nach Assergi und von dort wieder hoch zum Fuss des Monte San Franco.
Die Ausläufer des Campo Imperatore präsentieren sich hier als liebliche Hügellandschaft mit weiten Ausblicken. Sturmumtost und sonnenverwöhnt, der perfekte Ausgangspunkt für eine Radtour rund um den Lago die Campotosto mit Blick in die Monti della Laga. Eine grüne, bewaldete Landschaft, die den Übergang zwischen Appenin und Abruzzen bildet.
An einem Brunnen, an dem wir unsere Bidons auffüllen, treffen wir zwei einheimische Pilzsammler mit reicher Beute, die uns spontan zu einem Glas eisgekühltem Montepulciano einladen. Wein aus der einen Flasche in eine Plastikflasche mit einem Eisklumpen gegossen, kurz gewartet und in Plastikbecher gefüllt, wird geteilt, geschwatzt und Bekanntschaft geschlossen. Und Corona ist für einmal ganz weit weg.
Autarkes Reisen, begeisternde Begegnungen
Die Zeit auf der Hochebene des Campo Imperatore hat unsere Entscheidung, mit dem Steyr 10S21 zu reisen, zum ersten Mal nachhaltig bekräftigt. Völlig autark dank Solarenergie und einer starken Lichtmaschine, welche die Batterien während der Fahrt zusätzlich lädt, mit genügend Nahrungsmitteln, dem Luxus einer Dusche, Heizung, Trockentrenntoilette, bewegen wir uns dort, wo es keine Menschen und keine Infrastruktur hat, in der Abgeschiedenheit von atemberaubenden Landschaften. Auf dem Campo Imperatore fällt dann auch noch das Mobiltelefonnetz weg und sorgt für ein völlig ungestörtes Erlebnis.
Die Befürchtung, dass sich die Menschen in den abgelegenen Gebieten durch die Grösse des Fahrzeuges gestört fühlen und negativ reagieren könnten, hat sich zum Glück als grundlos erwiesen. Das Gegenteil ist eingetreten. Wo immer wir Halt machen, kommen Menschen auf uns zu, beglückwünschen uns zum Fahrzeug. Aufrichtige Freude, Interesse und Begeisterung, wenn wir Ihnen das Fahrzeug zeigen und Fragen beantworten. Was trennen könnte, sorgt hier für Verbindendes.
Einmal mehr sind wir überwältigt von Italien, seinen Menschen, seiner unglaublichen Vielfalt. Dem Leid, der Lebenskraft, dem Versagen, der Improvisation, seiner Geschichte und den Geschichten und zum Schluss und immer wieder, seiner Herzlichkeit. Eine Liebe und ein Leben werden nie genug sein für dieses Land.
Fahrradtour auf den Campo Imperatore von Santo Stefano di Sessanio aus: 54.4 Kilometer, 1’072 Höhenmeter.
Bergwanderung auf den Monte Camicia : 8.3 Kilometer, 931 Höhenmeter hinauf, dasselbe wieder hinab.
Fahrradtour vom Fusse des Monte San Franco rund um den Lago di Campotosto : 65 Kilometer, 1’212 Höhenmeter.
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