Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Brot und Spiele

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Brot und Spiele
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Von Martin Neff – Chefökonom Raiffeisen

Seit meiner Kindheit bin ich ein leidenschaftlicher Fussballfan. Kein grosses Turnier – vor allem aber natürlich jeweils die Weltmeisterschaften – habe ich in meinem Leben nicht hautnah verfolgt. Als die Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko stattfand, war ich – nach Ansicht meiner Eltern, versteht sich – noch zu jung, um nachts aufzubleiben und die Spiele live sehen zu können. Was für ein Elend. Nachdem 1966 schon dank Wembley-Tor ein emotionales Desaster war, war ich heisser denn je darauf, die Deutschen siegen zu sehen.

Und so stahl ich mich damals um elf Uhr nachts aus meinem Schlafzimmer und verfolgte durch einen winzigen, schmalen Schlitz zur Wohnzimmertüre in Schwarz-Weiss das «Jahrhundertspiel» Deutschland gegen Italien, das unglücklicherweise auch noch in die Verlängerung ging. Ich war am nächsten Tag nicht nur unglaublich müde, sondern vor allem auch todunglücklich. In meiner Erinnerung war der Sieg der Italiener nicht verdient, und ich haderte als Deutschlandfan schwer mit dem Schicksal. Damals war ich zehn Jahre alt und diese Weltmeisterschaften sind die ersten, an die ich mich heute noch richtig erinnere, genauso gut wie an alle anderen Grossturniere, die danach folgten.

Dieses Mal ist aber, so finde ich wenigstens, alles irgendwie anders als sonst bei einer WM. Von Vorfreude kann meinerseits nicht die Rede sein. Ob das daran liegt, dass die Fussballweltmeisterschaft zu einer ungewohnten Jahreszeit stattfindet oder in einem Land, das man mit Fussball nur schwer in Verbindung bringen kann, lasse ich mal offen. Jedenfalls geht es offenbar auch anderen eingefleischten Fussballfans ähnlich. Ein sehr guter Bekannter von mir, bekennender BVB-Fan (Borussia Dortmund) wie ich – vielleicht sollte ich hier zur Erklärung anfügen, dass meine Frau aus Dortmund stammt, zwinker! –, sagte mir letzte Woche, dass er die Fussball-WM nicht schauen werde. Er boykottiere diese «Spiele», denn er habe Mühe mit Katar. Es sei ein Schurkenstaat und er weigere sich, auch nur ein Spiel zu schauen. Konsequent ist er ja, aber ist das der richtige Weg? Ändert sich etwas, wenn er den Fernseher nicht anknipst? Laut Erhebungen der FIFA haben im Jahr 2018 sage und schreibe 3,5 Milliarden Menschen in Privathaushalten, an öffentlichen Veranstaltungen oder auf digitalen Plattformen die Fussballweltmeisterschaft in Russland verfolgt. 1,12 Milliarden Menschen weltweit sahen sich das Finale live an. Damals war Russland noch knapp salonfähig. Der Sport will schliesslich nicht mit Politik vermischt werden, sondern Völker einen, wie es so schön heisst, nicht wahr? Da muss man dann eben ein Auge zudrücken, von wegen Annexion der Krim und so. Auch Peking durfte sich diesen Winter medial zur Schau stellen. Und nun ist eben Katar dran.

In Katar leben rund 300’000 Staatsbürger, denen es aber so an gar nichts fehlt. Öl und Gas schaffen einen ungeheuren Luxus, dem die Einheimischen ungeniert frönen und den oberflächliche und bestechliche, teils vom Regime gekaufte Influencer einfach nur «geil» finden und ins Netz posaunen. Neben den Privilegierten leben noch rund 2,5 Millionen Gastarbeiter in Katar, die dafür besorgt sind, dass es den Einheimischen an nichts mangelt. Tausende von ihnen sind beim Bau der Sportstätten für die WM gestorben. Sie alle sind aufgrund des Kafala-Systems mehr oder weniger im Land eingesperrt. Wer Kafala googelt, wird unter anderem auch auf das Wording «sklavenartige Zustände» stossen. Katar selbst kommt in Netz auch nicht gerade gut weg. Auf Wikipedia heisst es etwa: «Katar erlangte im Jahr 1971 seine vollständige Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich. Seither wird es durchgehend autoritär als absolute Monarchie regiert. Staatsreligion ist der Islam und die Scharia ist die Hauptquelle der Gesetzgebung. Die Menschenrechtslage im Land gilt als äusserst kritisch, besonders die Niedriglohnmigranten in Katar werden zum Teil menschenunwürdig behandelt. Der Staat wird in den letzten Jahren ausserdem aufgrund seiner Unterstützung der Muslimbrüder und anderer radikalislamischer Gruppen sowie Terrororganisationen wie der Hamas kritisiert…»

Das klingt nicht gerade sehr vertrauenserweckend. Auch bezüglich Nachhaltigkeit wollte Katar eigentlich Vorbild sein. Fakt ist aber, dass der CO2-Ausstoss pro Kopf nirgends in der Welt höher ist als in Katar – viermal höher als in Deutschland und fast achtmal höher als hierzulande. Die WM wird zudem unzählige Flugbewegungen auslösen, weil in Katar selbst zu wenig Hotelunterkünfte für die Fans vorhanden sind, die dann jeweils aus anderen Golfstaaten oder sonst woher anreisen werden. Auch die Stadien zu kühlen, ist eigentlich ökologischer Un- nicht zu sagen Wahnsinn, aber dem Gigantismus sind in den Golfstaaten bekanntlich keine Grenzen gesetzt. Dennoch wird mein guter Freund wohl einer der wenigen sein, der die Spiele aus grundsätzlichen, ökologischen oder humanitären Bedenken nicht live am Fernsehen verfolgt. Denn die Politik hat längst vor dieser WM kapituliert. Ich sehe jetzt schon die Staatsoberhäupter die Hände der Ölscheichs schütteln und in den Logen der Stadien ihren Teams applaudieren. Schliesslich ist Katar ja ein verlässlicher Lieferant für Gas und Öl, nicht so wie Russland, an dessen Tropf wir nicht mehr hängen möchten. Dann schon lieber am Tropf der Scheichs. Dafür kann man dann auch mal ein humanitäres Auge zudrücken. Es ist schon paradox: Wir reden von Energiesparen und von sogenannten Werten der westlichen Kultur, und trotzdem werden wir alle am Fernseher hängen. Mangellage kennen die Gastarbeiter in Katar vielleicht, wir Memmen im Westen schwafeln nur davon und freuen uns auf Brot und Spiele. Ganz wie im alten Rom.

Zum Schluss noch in eigener Sache: Künftig lesen Sie etwas seltener von mir. «Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen» erscheint ab sofort alle zwei Wochen.

One thought on “Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Brot und Spiele

  1. Wie man mit Geschreibsel die Lesenden verunsichern kann. Auch in diesem Bericht steht, dass für die Stadionbauten tausende von Fremdarbeitern umgekommen seien. Fakt ist, dass Katar bei 2.5 Mio Fremdarbeitern pro Jahr 600 Tote zu beklagen hat (die im Raum stehenden 6000 Toten beziehen sich auf 10 Jahre bei 2.5 Mio Fremdarbeitern im Jahr). Dies ergibt 0.24 Tote pro Tausend.
    Vergleiche mit 60’000 Todesfällen in der Schweiz bei 9 Mio Einwohnern = 6.66 Tote pro 1000 Einwohnern. Auch von einem Chefökonomen kann man eine saubere Abklärung erwarten. Das gleiche gilt für die Einkommen der Fremdarbeiter aus Indien und Pakistan, die da 3 – 5 x mehr verdienen als zu Hause.

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