Meret Schneider: Nachrichteneskapismus und die Mental-Wellnessoase

Meret Schneider: Nachrichteneskapismus und die Mental-Wellnessoase
Meret Schneider, Nationalrätin von 2019 bis 2023, Grüne Schweiz. (Bild: parlament.ch)

Das Jahr hat gerade begonnen und wie immer ist dies die Zeit des Reflektierens, der Bilanzen, der Rankings und – auch das – der Vorsätze. Nicht nur in den Medien, sondern auch im Alltag wird dieser Ritus, der eine angenehme Synchronisation der Gesellschaft herstellt, die sonst mehr und mehr einer Fragmentierung der Lebensrealitäten unterliegt, richtiggehend zelebriert.

Das Pressefoto des Jahres, die drei Tipps für die Katerbewältigung am 1. Januar, die obligate Debatte ums Böllern, Raclette – so haben Sie es noch nie gemacht! und die Kürung des Vogels des Jahres 2024: Medien und alltägliche Mikrointeraktionen drehen sich um den Jahreswechsel und auch ich kann mich ihm nicht entziehen. Neben den angenehm smalltalktauglichen Fragen nach den Plänen für Silvester und dem Jahresabschlussstress, die das Warten auf den Zug mit flüchtiger Bekanntschaft unterhaltsam gestalten, ohne aufs Wetter ausweichen zu müssen, stelle ich auch des Öfteren – und dies aus echtem Interesse – die Frage nach potenziellen Neujahrsvorsätzen.

So abgedroschen diese Frage klingen mag, öffnet sie doch meist die Tür zu einem intensiven, anregenden Gespräch und einer Reflexion über die eigene Lebensgestaltung, bei dem man sich öffnet und Einblicke gewährt, die über den banalen Smalltalk hinausgehen. Ja, ich bin bekennender Vorsatz-Typ und schreibe jährlich einen Brief an mich selber, in dem ich darlege, was gut lief, was weniger, was ich mitnehmen möchte und was ich im alten Jahr zurücklasse, welche Ziele ich erreicht habe und welche ich mir neu setzen möchte. Und im Austausch über Ziele, Werte und Perspektiven auf das neue Jahr fiel mir in diesem Jahr eine Tendenz auf, die mich gerade in Bezug auf die hier gelebte Synchronisation der Öffentlichkeit besorgt stimmt: es ist der Nachrichten-Eskapismus.

So hörte ich immer wieder in Gesprächen über Vorsätze, Ziele und die generelle Verfasstheit der Gesellschaft und wie man sich darin zu verorten gedenkt, den Satz: ich möchte weniger Nachrichten lesen, keine Tagesschau mehr schauen, Zeitungsabonnements kündigen um dem nicht abbrechenden Strom negativer Nachrichten und Schreckensbilder aus aller Welt weniger ausgesetzt zu sein. Man wolle positiver denken, sich weniger Mainstream Medien und öffentlich-rechtliches Fernsehen zu Gemüte führen und sich stattdessen auf erbauliche Inhalte, positiv kommunizierende Instagram-Accounts und, letzteres ganz besonders, auf sich selbst zu besinnen. Öfters fielen Worte wie “Mental Health”, “Mental Wellbeing” und “Positive Thinking” und wenngleich die Stoikerin in mir, die gern empörungslos akzeptiert, was ich nicht beeinflussen kann, im Stillen applaudierte, so konnte ich diesen Vorsätzen dennoch nicht vorbehaltlos zustimmen.

Klar ist, permanente Konfrontation mit negativen Nachrichten und einer immer unübersichtlicheren und katastrophal erscheinenden Weltlage überfordert, lähmt und kann zu einer fatalistisch bis zynischen Grundstimmung führen. Sich dessen bewusst zu sein und die Selektion der konsumierten Nachrichten reflektiert zu gestalten ist ohne Zweifel wichtig – in einer Zeit der mannigfaltigen Nachrichtensender und einem Meinungspluralismus, der zuweilen in eine Meinungskakofonie mündet sogar unabdingbar, wenn man als Mensch handlungsfähig bleiben möchte. Ebenfalls nicht verwerflich ist die Grundhaltung, sich primär an positiv kommunizierenden und bestärkenden  Nachrichtenkanälen zu orientieren, die die Realität als eine zu gestaltende begreifen und abbilden und die Rezipientin als aktives, in eine Gesellschaft eingebundenes Subjekt adressieren, statt als Objekt einer wie auch immer gearteten, chaotischen Weltlage, der man einfach nur entfliehen möchte. Was mich jedoch an den Vorsätzen beunruhigt hat, war die Idee, sich von öffentlich-rechtlichen Medien und Tageszeitungen abzuwenden mit dem Ziel, sich dem Zustand der Welt, den Krisen und Kriegen nicht aussetzen zu müssen und sich in eine Mental-Wellnessoase aus positiven Bildern auf Instagram und Gartengestaltungsideen auf Pinterest zu flüchten.

Bei der Auseinandersetzung mit dem Eskapismus, der diesen Vorsätzen innewohnt und mit dem ich mich im Folgenden eingehender beschäftigt habe, stiess ich auf den Psychologieprofessor Frode Stenseng und seine Publikationen. Er konstatiert unter anderem, dass die meisten von uns an Kriegen nichts ändern können, wir keine Macht haben, die Politiker direkt zu beeinflussen und uns daher nur Bewältigungsstrategien bleiben, die auf Vermeidung statt Annäherung setzen. Jüngste Studien hätten zudem die positiven Aspekte des Eskapismus belegt. Wenn die Motivation für Eskapismus auf gesunden Motiven beruht, trägt sie zum Wohlbefinden bei. Dem kann ich nur zustimmen, wenn es um das persönliche Wohlbefinden des Subjekts geht – je weniger negative Nachrichten, desto besser fühle ich mich. Doch regt sich in mir bei diesem Gedanken lauter werdende Kritik: Kann es Ziel sein, zu Gunsten eines in Good News gepolsterten Subjekts sich einer teilweise katastrophalen Weltlage zu entziehen und schlechte Nachrichten zu vermeiden? Haben wir nicht als Bürgerinnen und Bürger die Pflicht, sich der Welt auszusetzen, um überhaupt realisieren zu können, was wir nicht beeinflussen und wo wir Handlungsspielraum haben und etwas zur Problemlösung beitragen können?

Meines Erachtens müssen wir dringend eine gemeinsame Öffentlichkeit konstituieren, und dies läuft oftmals auch über öffentlich-rechtliches Fernsehen wie eine Tagesschau oder Tageszeitungen, in denen man zumindest erfährt, was die Welt gerade grundlegend bewegt und erschüttert. Sonst besteht die Gefahr, dass durch die Segmentierung der unterschiedlichen Öffentlichkeiten und Realitäten, in die wir uns flüchten, am Ende jenen in der einen Bubble vielleicht sogar etwas zur Problemlösung einfällt, dieses die anderen aber gar nicht mehr erfahren und es für demokratische Problemlösungen ausfällt. Was wir unbedingt stärken müssen, ist eine Konvergenz und weniger die weitere Diversifikation in Spezialistenöffentlichkeiten. Selbstverständlich ist Pluralismus und Diversifikation als solches zu begrüssen, doch sie darf nicht zum Zerfall einer gemeinsamen Öffentlichkeit und damit einer gemeinsamen Realität führen, auf die man sich einigen kann. Denn letzteres  – und das habe ich insbesondere im Jahr 2023 stark beobachtet – ist es, was wir dringend brauchen: einen Minimalkonsens bezüglich der Faktenlage. Nur basierend auf einer gemeinsamen Faktenlage kann valide und evidenzbasiert diskutiert und gestritten werden. Eine solche erreichen wir durch Bildung, Information und – ja – auch durch sich Aussetzen einer Realität, die zuweilen unangenehm und deprimierend ist, doch uns als Subjekte handlungsfähig und damit zu Gestaltenden macht. Sie ist, davon bin ich überzeugt, den Menschen zumutbar.


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