Benedikt Weibel, Vorsitzender der SBB-Geschäftsleitung: «Das Wort Kahlschlag trifft in keiner Weise zu»

Moneycab: Herr Weibel, werfen wir zuerst  einen Blick zurück: Wie sieht Ihre generelle Bilanz nach etwas mehr als einem Jahr Bahn 2000 aus?


Benedikt Weibel: Es war ein schwieriges Jahr für die SBB. 2005 wird wohl für alle Zeiten als das Jahr der Strompanne in Erinnerung bleiben. Daneben droht das Positive fast vergessen zu gehen: Der neuen Fahrplan für Bahn 2000 hatte einen perfekten Start und wird vom Publikum honoriert: Noch nie sind so viele Leute mir der SBB gereist wie im zurückliegenden Jahr. Zwei Millionen Menschen sind inzwischen im Besitz eines Halbtax-Abos, und rund 290’000 Leute reisen mit einem GA.


95.64 % aller Züge trafen mit weniger als fünf Minuten Verspätung ein. Trotzdem gab es mehr Reklamationen, weil es zu überdurchschnittlich vielen Verspätungen in den Hauptverkehrszeiten und auf hochfrequentierten Strecken kam. Wie reagieren die SBB darauf?


Die Kritik findet allerdings auf einem recht hohen Niveau statt, wenn ich unsere Pünktlichkeitswerte zum Beispiel mit der Situation der französischen SNCF vergleiche mit ihrem viel einfacheren und weniger belasteten System. Ein stabiles Netz bedeutet einen täglichen Kampf, und in den Bemühungen darum, dürfen wir nie nachlassen. Wir hatten letztes Jahr viele Störungen, und das Störungsmangement musste sich mit dem neuen Fahrplan erst einspielen. Jetzt müssen wir die Details pflegen, etwa die Verbindung Zürich?Bern. Denn die Pünktlichkeit auf dieser Linie strahlt auf das ganze Land aus. Wir haben Schwachstellen, und an diesen arbeiten wir.


Ein Defizit, welches Sie selber immer wieder erwähnen, ist die mangelhafte Information der Kundinnen und Kunden. Welche Massnahmen haben Sie bisher ergriffen, um das Problem in den Griff zu bekommen?


Das ist tatsächlich ärgerlich, wenn die Reisenden im Störungsfall an den Bahnhöfen und in den Zügen nicht rechtzeitig oder nicht richtig informiert werden. Ich habe allerdings den Eindruck, dass da in den letzten Wochen und Monaten schon einiges besser geworden ist. Wir unterziehen den Bereich zur Zeit einem sehr grundsätzlichen Prozess-Engineering, um die Verantwortungen und Abläufe besser zu definieren.



Ich war im Ausland, und als ich hörte, dass das ganze SBB-Netz ohne Strom ist, dachte ich zuerst: Das kann nicht wahr sein. Leider war es wahr.
Benedikt Weibel, Vorsitzender der SBB-Geschäftsleitung


Kommen wir auf den ominösen 22. Juni 2005 zu sprechen, als während Stunden in der ganzen Schweiz die Züge still standen. Können Sie uns Ihre persönlichen Gefühle an diesem Tag schildern?


Ich war im Ausland, und als ich hörte, dass das ganze SBB-Netz ohne Strom ist, dachte ich zuerst: Das kann nicht wahr sein. Leider war es wahr. Die Umstände, die zur Panne führten, haben wir inzwischen im Detail abgeklärt und das Nötige veranlasst. Es gab im Zusammenhang mit der Strompanne aber auch zwei Aufsteller: Erstens habe ich festgestellt, wie gelassen und gut die meisten unserer Kundinnen und Kunden mit der Situation umgegangen sind. Zweitens war es ? nachdem die Panne passiert war ? eine beeindruckende Leistung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, den Bahnbetrieb innert so kurzer Zeit wieder zum Laufen zu bringen. Schon am nächsten Morgen verkehrten die Züge wieder nach Fahrplan.


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Für die meisten Passagiere ist die Bahn 2000 ja nur von Vorteil und dies führte auch dazu, dass so viele Menschen wie nie zuvor im vergangenen Jahr den Zug benutzten. Ärgern Sie sich nicht darüber, dass trotzdem immer zuerst über Verspätungen, eine Ertragslage, die mit der Frequenzsteigerung nicht mithält, und Pannen gesprochen wird?


Nein, darüber ärgere ich mich nicht. Die Kritik zeigt, wie hoch die Erwartungen sind, die an die SBB gestellt werden. Dass diese Erwartungen so hoch sind, sagt einiges über das Niveau unserer Leistungen. Im übrigen sind die Kritiken ja oft berechtigt und zeigen uns, was wir noch besser machen können.


Im Ausland ist die Wahrnehmung ja weniger kleinlich. Da gelten die Schweizerischen Bundesbahnen als «Vorzeigebahn». Hat das mit dem hervorragenden schweizerischen Bahnsystem oder dem weniger guten Service in anderen Ländern zu tun?


Die SBB betreibt eines der dichtesten und komplexesten Bahnsysteme, was uns internationalen viel Aufmerksamkeit verschafft. Tatsächlich geniesst die SBB in der internationalen Fachwelt einen guten Ruf. Dass Leistungen aus einer gewissen Distanz positiver beurteilt werden, gilt ja nicht nur für die SBB.


Viel negative Schlagzeilen machte im letzten Jahr SBB Cargo. Mit einem Stellenabbau von 590 Stellen und dem Abbau der Hälfte der Bedienungspunkte soll das Ergebnis um 85 Mio. Franken verbessert werden. Kann man mit so einem Kahlschlag noch von einem flächendeckenden Angebot sprechen?


Das Wort Kahlschlag trifft in keiner Weise zu. Denn auch mit der neuen Struktur werden wir auf dem SBB-Netz unseren Güterkunden im Durchschnitt alle zehn Kilometer einen Bedienungspunkt anbieten können. Wenn wir vorhin von internationalen Vergleichen gesprochen haben, erlaube ich mir den Hinweis, dass wir auch hier im Vergleich mit anderen Bahnen gut dastehen.


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Der Entscheid hat heftige Kritik nach sich gezogen: Der Schritt sei unverständlich und unverantwortlich, kritisiert SEV-Präsident Pierre-Alain Gentil. Für die Linken und die Grünen wirft dieser Schritt die schweizerische Verlagerungspolitik um Jahr zurück und die FDP kritisiert die Unternehmensführung scharf. Was entgegnen Sie?


Dass die Gewerkschaft opponiert, ist verständlich. Dass wir nach einem massiven Ertragseinbruch konsequent und rasch reagieren müssen, ist ebenso klar.


Ist der Entscheid unumstösslich, oder könnte der Druck von allen Seiten dazu führen, dass SBB Cargo nochmals über die Bücher geht?


Wir haben immer gesagt, dass wir jeden einzelnen Fall anschauen und gemeinsam mit unseren Kunden nach Lösungen suchen. Daran arbeiten die Kollegen von SBB Cargo derzeit intensiv, und sie haben schon in etlichen Fällen gute Lösungen gefunden. Dass aber das Fixkostenniveau massiv nach unten gedrückt wird, ist unausweichlich, auch im Bezug auf die langfristige Perspektive dieses Bereichs.



Wir wollen die Reisenden vor dem Passivrauchen schützen.
Benedikt Weibel


Seit dem 11. Dezember ist das Rauchen in den SBB-Zügen untersagt. Wie ist die Akzeptanz für diese Massnahme bisher zu beurteilen?


Die Kundinnen und Kunden haben unser Anliegen verstanden: Wir wollen die Reisenden vor dem Passivrauchen schützen. Die Akzeptanz ist entsprechend gross, nicht nur bei den Kundinnen und Kunden, sondern auch bei unserem Personal in den Zügen.


Sehr erfreulich präsentiert sich die Entwicklung bei den General- und den Halbtax-Abonnements. Fast 300’000 GA sind im Umlauf und mittlerweile 1,983 Mio. Halbtax-Abos. Berechnen Sie Ihre Preise nicht längst auf der Basis der Halbtax-Abos und betrachten den Volltarif als netten Zustupf?


Jedes Unternehmen ist gut beraten, die Stammkundinnen und ?kunden speziell zu pflegen. Wir wollen unseren Kunden, die regelmässig mit uns fahren, speziell attraktive Angebote unterbreiten. Wer nur einmal im Jahr, wenn auf der Strasse zu viel Schnee liegt, mit dem Zug fährt,  ist bereit, dann auch etwas mehr zu bezahlen. Wobei sich auch in diesem Fall der Kauf eines Halbtax-Abos sehr schnell rechnet.


Ein ereignisreiches Jahr ist vorüber, welches sind Ihre Ziele für die SBB im laufenden Jahr, wo liegen die Schwerpunkte?


Der zentrale Schwerpunkt liegt bei der Umsetzung der Massnahmen für SBB Cargo, die unserer Gütersparte im Jahr 2007 schwarze Zahlen bringen sollen. Mit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2006 werden wir sodann auf der Neubaustrecke zwischen Mattstetten und Rothrist die Führerstandssignalisierung ETCS in Betrieb nehmen. Mit den Sozialpartnern verhandeln wir über einen neuen GAV. Und vom Bund erwarte ich massgebende Entscheide im Hinblick auf die Sanierung unserer Pensionskasse.


Herr Weibel, wir bedanken uns für das Interview.





Zur Person
Dr. rer. pol. Benedikt Weibel, Jahrgang 1946, ist seit 1999 Vorsitzender der Geschäftsleitung der SBB. Bei den SBB ist Benedikt Weibel seit 1978 tätig, u.a. als Generalsekretär und Chef des Departements Verkehr, seit 1993 Präsident der Generaldirektion des früheren Bundesregiebetriebes SBB.


Zur SBB
Am 1. Januar 1999 wurde die SBB vom Regiebetrieb des Bundes in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die sich zu 100 Prozent im Besitz der Eidgenossenschaft befindet. Da die SBB AG besondere Regelungen des Bundes zu befolgen hat, wird die Organisation auch als spezialrechtliche Aktiengesellschaft bezeichnet. Jeweils für vier Jahre legt der Bund im Voraus die Leistungsziele für die SBB fest. Daraus leitet der Verwaltungsrat der SBB AG unter Leitung von Thierry Lalive d?Epinay die Strategie des Unternehmens ab. Die Geschäftsleitung unter dem Vorsitz von Benedikt Weibel ist verantwortlich für die Umsetzung dieser Strategie. Der SBB-Konzern ist aufgeteilt in die drei Divisionen Personenverkehr, Güterverkehr (SBB Cargo) und Infrastruktur. Hinzu kommen die Bereiche Immobilien und die zentralen Dienste, denen unter anderem das Finanzwesen und die Personalverwaltung angehören. Über 300 Millionen Fahrgäste und rund 60 Millionen Tonnen Güter sind jedes Jahr mit der SBB unterwegs. Dabei ist ihr Streckennetz mit 3000 Kilometern Länge eigentlich bescheiden, gemessen an den 24’500 Kilometern des gesamten öffentlichen Verkehrsnetzes der Schweiz. Die Züge der SBB leisten 87 Prozent der gefahrenen Personenkilometer und gegen 90 Prozent der Tonnenkilometer im Güterverkehr. Mit Ausnahme von Herisau, Appenzell und Stans sind alle Kantonshauptorte direkt über die Gleise der SBB miteinander verbunden. An beinahe 800 Bahnhöfen halten die Züge im Stunden- oder Halbstundentakt. Zwei Drittel des gesamten Transitgüterverkehrs transportiert die Bahn durch die Schweizer Alpen. Auf 675 Schweizer Bahnhöfen können Güterwagen beladen und abgeführt oder empfangen und entladen werden. Rund 2450 Unternehmen sind über Anschlussgleise direkt mit dem schweizerischen und dem europäischen Schienenetz verbunden. Über 27 000 Eisenbahnerinnen und Eisenbahner sorgen rund um die Uhr für einen sicheren und pünktlichen Bahnbetrieb. Damit ist die SBB nicht nur die grösste Reise- und Transportfirma der Schweiz, sondern auch eine der grössten Arbeitgeberinnen der Schweiz.

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