Martin Zenhäusern: Nachdenken

Wenn wir nachdenken und das Ungelöste, das Störende Revue passieren lassen, dann schaffen wir damit die Basis, Ungelöstes endlich zu lösen und das Störende zu ent-stören. Jedes Individuum weiss selbst am besten, was im ganz persönlichen Fall schon längst hätte getan werden müssen. Erst wenn wir die uns betreffenden Fragen beantwortet haben, sind wir bereit, uns den Fragen und Themen zuwenden, die uns nur indirekt betreffen. Ansonsten drehen wir uns im Kreis, finden Ausreden statt Lösungen und suchen Sündenböcke statt Selbstverantwortung zu übernehmen. Also lehnen wir uns in den Ferien mal ganz bequem zurück, sei dies im Liegestuhl oder auf einer Bergwiese, und lassen uns inspirieren: «Was kann ich ändern und besser machen?».

Der Bundesrat denkt nach – oder sogar voraus?
Nachdenken sollte auch der Bundesrat. Nämlich, wie er mit der Frage der Arbeitslosigkeit umgehen will, wenn bei anhaltender Wirtschaftskrise immer mehr Menschen entlassen werden. Ent-lassen werden bedeutet für viele auch ver-lassen sein. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was in Zukunft getan und auf Gesetzesebene verändert werden muss, damit die Arbeitgeber auch ältere Arbeitnehmer im Unternehmen behalten, anstatt sie aufgrund der höheren Soziallasten als Erste auf die Strasse zu stellen. Es lohnt sich darüber nachzudenken, wie Arbeiten besser verteilt werden können, damit nicht die einen eine Vielzahl von Überstunden zu tragen haben, während andere ohne Arbeit sind. Skeptiker mögen hier einwenden, dass gewisse Positionen unteilbar sind. Das ist richtig. Viele sind mit ein bisschen Fantasie und gutem Willen jedoch sehr wohl teilbar. Zudem ist es zwingend, dass Schul- und Studienabgänger rasch in die Arbeitswelt integriert werden. Die Pflästerlipolitik, die wir im Bundesrat wie auch bei den Wirtschaftsverbänden zur Zeit erleben, ist nur Symptombekämpfung und bringt keine nachhaltige Lösung. Zudem hinkt sie der Realität ständig hinterher – warum nicht auch einmal über Lösungen nachdenken, bevor die offensichtlich zu erwartenden Probleme schon eingetreten sind? Der «Fachbegriff» hierfür heisst: Voraus-Denken. Oder: Antizipieren.


Die Augen vor der Realität verschliessen – wie lange noch?
Nachdenken sollte auch die internationale Finanzbranche, ob es der gesellschaftlichen Stabilität dient, wenn Systeme geschaffen und wider besseres Wissen am Leben erhalten werden, die viel zu viele Verlierer und viel zu wenig Sieger hervorbringen? Ob es sinnvoll ist, in Zeiten der Krise die Saläre massiv zu erhöhen, um die entgangenen Boni zu kompensieren? Ob sie es sich weiterhin leisten will, in ihrer virtuellen Welt die Augen vor der Realität zu verschliessen?


Neupositionierung des Bundesratspräsidiums
Und im Schweizer Bundesrat kämpfen währenddessen alle um ihre Pfründe, wenn sie sich nicht gerade in andere Departemente einmischen. Ein starker und kohärenter Auftritt nach innen wie nach aussen bleibt dabei ein unerfüllter Wunsch. Dabei wäre er dringend notwendig. Wie könnte er bewerkstelligt werden? Indem die Position des Bundesratspräsidenten aufgewertet würde. Provokativ gedacht, müsste diese Position neu geschaffen werden, d.h. dass nicht ein amtierender Bundesrat diese Funktion ausüben würde, sondern dass eine Persönlichkeit ausserhalb des Bundesrates für vier oder sechs Jahre in dieses Amt gewählt würde, ohne die Möglichkeit der Wiederwahl.


Von Rock’n’roll und Miniröcken zum verhüllten Gesicht
Auch Diktaturen und Religionsstaaten sollten sich ernsthaft Gedanken machen, ob es haltbar ist, in einer weltweit vernetzten und deshalb auch zeitnah informierten Welt Unterdrückung und Gewalt anzuwenden wie im finstersten Mittelalter? Die Mütter und Grossmütter der heutigen Teenager im Iran sind aufgewachsen mit Rock’n-Roll und Miniröcken, bevor das westlich orientierte Persien 1979 zum fundamentalistischen Iran wurde.


Wo rote Teppiche eingerollt werden
Er sei skeptisch, ob in der Wirtschaft wirklich die richtigen Lehren aus dem angerichteten Desaster gezogen würden, sagte mir kürzlich eine Führungskraft beim Frühstück im Sprüngli. Er führt Dutzende von Mitarbeitern und wird das Unternehmen bald verlassen, weil er nicht mehr hinter dessen Philosophie stehen kann. «Sie ziehen die Konsequenzen, genau so, wie es Ihre engsten Mitarbeiter tun werden,» antwortete ich ihm. «Und sehen Sie sich um: Hier sitzen mehrere mir gut bekannte Führungskräfte, die sich ebenfalls verändern werden.» Wo ich auch hingehe, überall stelle ich fest, dass ein Umdenken stattfindet: Raus aus dem Hamsterrad. Etwas Sinnvolles tun. Hinter einer Aufgabe stehen können. Dabei bin ich nicht blauäugig: Viele ganz oben in der Hierarchie entziehen sich diesem Prozess. Lieber reissen sie ihr Unternehmen, vielleicht sogar ihre Branche in den Abgrund, anstatt von ihrer Macht zu lassen. Es ist jedoch ein Frage der Zeit, bis sie weggespült werden, weil sie nicht begriffen haben, dass die grenzenlose Egomanie mega out ist. Man stelle sich vor, wie sie mit ungläubigem Erstaunen feststellen, wie der rote Teppich vor ihrem Büro eingerollt wird und wie sie gleichzeitig gebeten werden, den Schlüssel abzugeben. Ich rechne hier in Jahren und nicht mehr in Jahrzehnten.


Die Kaskade ist klar: Zuerst nachdenken, dann Lösungen erarbeiten und dann handeln. Und schon verändert sich die Realität. Wir haben es selbst in der Hand. So wie es der Aphoristiker Werner Mitsch festhielt: «Gibt es einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis? Es gibt ihn. In der Tat.»

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Martin Zenhäusern
Martin Zenhäusern ist Gründer und Inhaber der Zenhäusern & Partner AG, welche Unternehmen in allen Fragen der Kommunikation berät sowie Inhaber der Zenhäusern Akademie AG, welche Führungskräfte in Führung und Krisen-Management ausbildet. Persönlicher Ratgeber mehrerer CEOs, u.a. persönlicher Berater des VR-Präsidenten beim grössten Schweizer Börsengang. Autor der Publikationen «Der erfolgreiche Unternehmer» und «Chef aus Passion», beide 2008 im Orell Füssli-Verlag erschienen.

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