Europa muss anfangen, das Ende des russischen Krieges in der Ukraine zu fürchten

Europa muss anfangen, das Ende des russischen Krieges in der Ukraine zu fürchten
Dr. Fritz Kälin

Wie schon in der ersten heissen Kriegsphase 2014 und 2015 entscheidet sich Europas Sicherheitslage 2022 wieder auf den ukrainischen Schlachtfeldern. Das wirtschaftliche Sanktionsgift des Westens wirkt viel langsamer, als die russischen Panzerkolonnen, welche die grössten ukrainischen Städte in den Würgegriff nehmen.

Von Dr. Fritz Kälin

Das könnte Russland dazu anspornen, seine operativ-strategischen Ziele unter vollem Einsatz seines einzigen wirklichen Vorteils innert nützlicher Frist zu erreichen: Feuerkraft. Denn rein quantitativ sind seine Bodentruppen den inzwischen voll mobilisierten Verteidigern bestenfalls ebenbürtig. Putin hat es bislang nicht gewagt, im grossen Stil Reservisten zu mobilisieren, die erst nach vielen Wochen das Kräfteverhältnis klar zu Gunsten des Kremls kippen könnten. Und wie viele seiner in der Rosgvardia zusammengefassten paramilitärischen Truppen des Innern kann er zur Sicherung der eroberten ukrainischen Landstriche ab detachieren, ohne einen Kontrollverlust über die russische Stadtbevölkerung zu riskieren?

Unsere mediale Aufmerksamkeit liegt nicht auf der entscheidenden Front

Ob Russlands Truppen Kiew und Charkow nicht nur zu umfassen vermögen, sondern die Logistik für eine Belagerung und infanteristische Manpower für die finale Eroberung dieser Grossstädte aufbringen können, ist keineswegs sicher. Der ukrainische Kampferfolg im Norden und Nordosten hat aber einen Preis: Im Süden fehlte es an Verteidigern um zu verhindern, dass die Invasoren aus der annektierten Krim heraus rasch grosse Gebiete erobern konnten. Dort können sie sich auf ein solides Strassen- und sogar Schienennetz abstützen. Mittelfristig drohen sie mehrere ukrainische Brigaden im östlichsten Drittel der Ukraine einzukesseln. Danach würden starke russische Kräfte frei, um Odessa einzunehmen, die letzte Schwarzmeerhafenstadt, die bislang noch fest in ukrainischer Hand ist. Sobald Russland alle ukrainischen Meeresanschlüsse erobert hat, besitzt es einen sehr starken Verhandlungspfand. Kiew sollte dann nicht bloss als eine politische Hauptstadt gesehen werden, sondern als Kontrollschleuse des Dnjepr. Mit der Kontrolle über diesen schiffbaren Strom könnte sich Moskaus wiedererlangte Dominanz über den Schwarzmeerraum nicht nur militärisch, sondern auch ökonomisch langfristig auszahlen. Solange Moskau Grund zur Annahme hat, es könne den Krieg im Süden zu seinen Gunsten entscheiden, wird es sich durch die westliche Berichterstattung über die heldenhafte Verteidigung von Kiew nicht dazu verleiten lassen, den Kampf verloren zu geben.

Kontraproduktives Heldentum einer zu spät mobilisierten (Zivil-)Gesellschaft

Was es für einen Kampf um Kiew zu bedenken gilt: Die bisher auf Videos von ukrainischen Demonstranten beobachtbare professionelle Zurückhaltung der russischen Truppen in bereits besetzten Städten könnte bald wegfallen. Die Nachschubkolonnen werden zu dringend an der Front benötigt, um sich von zivilen Blockaden aufhalten zu lassen. Ein weiteres Risiko für eine eskalierende Brutalität geht aber auch von ukrainischer Seite aus. Bei aller Sympathie für den legitimen Freiheitskampf: Zivilisten ohne jegliche militärische Ausbildung und ausserhalb jeder Befehlskette mit Waffen und Molotowcocktails auszustatten, um sich einer regulären Invasionsarmee entgegenzustellen, ist gelinde gesagt problematisch. Sollten die russischen Soldaten in jedem Zivilisten eine potentielle Bedrohung sehen, werden sie diese durch rigoroseren Schusswaffeneinsatz auf sichere Distanz halten wollen. Das wird jeder US-Veteran bestätigen, der im Irak in jedem zivilen Fahrzeug einen potentiellen Selbstmordattentäter vermuten musste. Eine solche furchtbedingte Isolation der russischen Soldaten von den Ukrainern wäre kontraproduktiv. Wer um sein nacktes Überleben kämpft, ergibt sich weniger schnell und wagt kaum zu desertieren. Westliche Staaten und Medien sollten Kiew dazu anhalten, in die bewiesene Opferbereitschaft seiner mindestens 200’000 Soldaten zu vertrauen. Die Zivilbevölkerung, welche die Sprache der Angreifer spricht und denselben kulturellen Hintergrund hat, kann deren Moral mit zivilem Widerstand mittelfristig besser schwächen.

Auch der Westen hat in diesem Krieg wenig bis nichts zu gewinnen

Die russische Armee könnte also, wie so oft in ihrer Geschichte, den Sieg nicht auf taktischer, sondern operativ-strategischer Stufe erzwingen. Falls nicht, droht der ukrainische Abwehrkampf, zivile Widerstand und der Wirtschaftskrieg des Westens je länger je eher die Pläne des Kremls zu durchkreuzen. Leiten wir daraus zwei Nachkriegsszenarien ab:

Szenario 1: Russland ‹gewinnt› den Krieg in dem Sinn, dass es in einem Grossteil der Ukraine und in Weissrussland eine dauerhafte Militärpräsenz etablieren kann. Russische Truppen stünden von Estland bis zur rumänischen Schwarzmeerküste fast durchgehend an den Grenzen von NATO-Mitgliedstaaten. Das ergäbe eine fast sechsmal längere Kontaktlinie als die innerdeutsche Grenze im Kalten Krieg. Grenzgebiet, das militärisch eher offensiv als defensiv verteidigt werden müsste. Die NATO und Russland müssten ihre Landstreitkräfte quantitativ aufstocken und in einer kostentreibend hohen Bereitschaft halten. Ökonomisch geschwächt und mit konstant hohen Verteidigungsausgaben belastet, würde Russland zum verlängerten Arm wachsenden chinesischen Einflusses bis weit nach Europa hinein.

Szenario 2: Putin und sein Machtzirkel verlieren nicht nur den Krieg in der Ukraine, sondern die Macht in Russland. Das dürfte kaum auf friedlich-demokratischen Weg erfolgen. Das wäre nicht nur das Ende von Putins Russland als geopolitischem Hasardeur, sondern auch als Ordnungsmacht im Kaukasus und Zentralasien. In Syrien und Afrika warten islamistische Terrorbewegungen nur darauf, dass nach den gescheiterten westlichen Militärinterventionen auch die russische Unterstützung für lokale Regimes wegbricht. Aus diesem Krisengürtel könnte ein weiterer Exodus in Richtung Europa erfolgen. China läge in Zentralasien ein riesiges, rohstoffreiches Machtvakuum zu Füssen. Hier könnte es zuerst seine Position gegenüber der US-Seemacht nachhaltig verbessern, bevor es eine hochriskante Invasion Taiwans wagt. Die Geschichte lehrt, dass ein Kriegsende oft die Saat für einen späteren Krieg aussät. Beten wir also für Frieden, nicht bloss für ein Ende dieses Krieges. Und rüsten wir uns für den Fall, dass unsere Gebete nicht erhört werden.


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