Die Sicht des Raiffeisen-Ökonomen: Die Zeitillusion

Die Sicht des Raiffeisen-Ökonomen: Die Zeitillusion
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Stellen Sie sich vor, sie haben Schulden, mächtig viel Schulden. Parallel dazu pflegen Sie einen üppigen Lebensstil, leben über ihre Verhältnisse und das schon seit gefühlter Ewigkeit. Eigentlich können Sie sich die hohe Schuld nur leisten, weil bisher kein Gläubiger darauf gepocht hat, dass Sie sie zurückzahlen. Und vor allem weil Sie dank eines unerhörten Geldsegens der Notenbanken unter der Zinslast nicht zusammenbrechen. Doch langsam traut man Ihnen nicht mehr so richtig auf den Weg. Nachdem Sie immer wieder eine seriösere Haushaltsführung versprochen haben, aber nichts dergleichen unternommen haben, drohen Ihnen ihre Gläubiger, den Geldhahn zuzudrehen.

Schlimm, denn spätestens jetzt helfen nur noch guter Willen der Gläubiger und vor allem Zeit. Leider können private Unternehmen und Haushalte aber nicht auf Zeit spielen wie die öffentlichen Haushalte auf den guten Willen hoffen. Es wird folglich Zeit, den Gürtel enger zu schnallen. Die öffentlichen Schuldner haben es da leichter, da ihre Schuldenkrise nun schon dermassen lange dauert, dass alle müde sind und ein paar Milliarden Euro mehr, die benötigt werden, kaum mehr jemanden aus dem Busch hervorholt. Das hat man im Fall Griechenlands gesehen, das trotz seiner – hoffentlich nur mit Stolz verwechselten – Überheblichkeit letztlich auf Europa zählen konnte. Die Eurostatten winkten nicht einmal mehr gross zähneknirschend durch, dass Griechenland noch mehr Zeit bekommt und die letzten zurückbehaltenen Hilfskredite nach Athen fliessen können. Seit die Zinsen nicht mehr tiefer fallen können, stellt die Notenbank hauptsächlich Zeit zur Verfügung, für teures Geld versteht sich.

Zeitverschwendung
Zeit ist folglich teuer und verdient, genutzt zu werden. Die Europäische Zentralbank investiert seit der Finanzkrise mehr oder weniger ausschliesslich in Zeit. Sie kaufte den Banken Zeit und anschliessend den überschuldeten Euroländern. Das geht nun schon mehr als fünf Jahre so. Angesichts dessen, was die Zeit kostet, müsste man annehmen, dass sehr sorgsam mit ihr umgegangen würde. Doch das ist nicht der Fall. Mittlerweile dämmert das selbst dem grössten Zeitillusionisten Mario Draghi, der griechische Anleihen nicht mehr weiter als Sicherheit anerkennt. Auch er hat begriffen, dass die Eurostaaten nicht willens sind, den schmerzhaften, aber unausweichlichen Weg von strukturellen Reformen anzupacken und lieber besser Zeiten abzuwarten. Wenn die Konjunktur wieder etwas runder läuft und sich die Inflation zurückgemeldet hat am liebsten. Doch darauf wartet Europa schon viel zu lange. Und nach wie vor geht man weiter verschwenderisch mit der Zeit um. Die französische Regierung will ihre Sparbemühungen drosseln und die gesamtwirtschaftliche Defizitquote erst 2018 unter den Maastrichtwert von 3% des Bruttosozialproduktes senken.

Im Schlepptau der aufwendigen Griechenlandübung wurde auch das in Brüssel höchst unspektakulär durchgewinkt. Es wird in der Eurozone nach dem bewährten Rezept gespielt, auf Zeit. Griechenland wehrt sich aufmüpfig gegen zu harte Auflagen, in Frankreich und Italien findet sich keine Mehrheit, die bereit wäre, tiefgreifende strukturelle Reformen in Angriff zu nehmen und selbst in Ländern wie Deutschland, um die es besser steht, schielen die Politiker mehr auf die Wahlen als auf den Staathaushalt. Angesichts der hervorragenden Verfassung, in der sich die deutsche Wirtschaft befindet, war die schwarze Null im öffentlichen Haushalt längst überfällig. Man liess sich damit aber bis nach den Wahlen Zeit, denn diese Zeit beanspruchten andere Länder schliesslich auch. Dabei heisst ein Nulldefizit nur, dass die Schuld nicht weiter steigt, wahrlich keine Leistung. Doch für Demokratien in hochentwickelten Industrieländern offenbar schon. Zeitverschwendung also auch bei den vermeintlich Soliden.

Spiel mit der Zeit
Das Spiel mit der Zeit scheint noch ewig so weitergehen zu können. Die gekaufte Zeit, die bisher ungenutzt verpuffte, könnte aber am Ende fehlen. Mit der mächtigen Zentralbank im Rücken wähnt sich mancher Staat zwar sicher. Doch geht vergessen, dass die Finanzmärkte auch sehr rasch einen Richtungswechsel vollziehen können. Das macht das Spiel mit der Zeit zu einem Spiel mit dem Feuer. Wenn die Märkte die Geduld mit Europa verlieren, ist es zu spät. Doch es sieht fast danach aus, dass es die Länder Europas darauf anlegen. Oder sie sind geldpolitisch benebelt. Seit die EZB das quantitative Easing aufgegleist hat, haben die Börsen Europas nochmal richtig aufgedreht. Was nach dem bewährten Muster der letzten fünf Jahre aussieht, fast jede geldpolitische Ankündigung und bzw. oder Massnahme hat an den Aktienmärkten Kursavancen ausgelöst – unabhängig von den zu Grunde liegenden Fundamentalfaktoren, könnte auch der letzte Versuch sein, neue Höhen auszukundschaften.

Denn jedem Marktakteur ist bewusst, dass die Hausse nicht ewig gehen kann und die Märkte reif und teuer sind. In den Kursen ist heute schon viel von dem eingepreist, was erst noch geliefert werden muss. Nicht auszuschliessen, dass die Märkte vorsichtiger werden und das Misstrauen wieder aufkeimt. Dann auf Zeit zu spielen, dürfte nicht mehr so einfach sein. Mal sehen, ob das den Griechen tatsächlich nochmals gelingt, und ob sie im Juni spürbare Erfolge ihrer Sparbemühungen vorweisen können. Die Märkte werden dann ein genaueres Auge auf Griechenland haben und ihm kaum mehr Zeit zu billigen. Denn mit der Zeit verlieren die Märkte auch die Geduld. Es könnte einen heissen Spätfrühling geben. (Raiffeisen/mc/pg)

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