EU kommt Industrie im Streit um Chemikaliengesetz entgegen

Kurz bevor sich die Abgeordneten kommende Woche in erster Lesung mit dem umstrittenen Dossier befassen, haben sich die beiden grössten Fraktionen – Konservative und Sozialisten – nun auf einen Kompromiss verständigt. Darin wird der Vorschlag der Europäischen Kommission zu Gunsten der Industrie abgeschwächt. Die Organisation World Wide Fund for Nature (WWF) kritisiert, dass damit weder die Gesundheit noch die Umwelt ausreichend geschützt würden. Die Grünen im EU-Parlament sprechen von einer «Wunschliste der Industrie, bei der Verbraucher- und Umweltschutz auf der Strecke bleiben».


Registrierung, Evaluierung und Autorisierung von Chemikalien
Mit ihrem Vorschlag zum Schutz von Menschen und Umwelt vor giftigen Substanzen verfolgte die Kommission ein hehres Ziel: REACH (Registrierung, Evaluierung und Autorisierung von Chemikalien) verlangt von den Unternehmen, umfassende Daten über 30.000 Stoffe zu erheben, die vor 1981 auf den Markt kamen. Von diesen Substanzen sei nur rund ein Siebtel vollständig geprüft, sagt die Europaabgeordnete Hiltrud Breyer (Grüne): «Haushaltsgeräte, Textilien oder Spielzeug sind ein Grossversuch an Mensch, Tier und Umwelt.» Sie bemängelt, dass jeder Autofahrer sein Fahrzeug zum TÜV bringen müsse, die Industrie bei Altstoffen bislang aber ungeprüft freie Fahrt habe. Das bleibe auch so, wenn der Kompromiss im Parlament eine Mehrheit finde.


Umkehr der Beweislast
Gleichzeitig sorgt das umstrittene Chemikalienrecht für die Umkehr der Beweislast. Bislang mussten die Behörden der Industrie in aufwendigen Tests nachweisen, dass ihre Chemikalien schädlich sind. Künftig müssen die Unternehmen Datensätze erheben und an eine noch zu schaffende EU-Behörde schicken.


Angst vor hohen Kosten, Bürokratie und Arbeitsplatzverlusten
Umwelt- und Verbraucherschützer, Ärzte und Gewerkschaften begrüssten den Kommissionsvorschlag als wichtigen Schritt im Kampf gegen Krankheiten. Hingegen blies der Behörde von Industrie und Wirtschaftsverbänden Gegenwind ins Gesicht. Sie warnten vor den hohen Kosten, Bürokratie und dem Verlust von tausenden von Arbeitsplätzen.


Der Kompromiss
Mit dem nun erzielten Kompromiss, der nach den Worten des sozialistischen Parlamentsberichterstatters Guido Sacconi auch von den Liberalen mitgetragen wird, kann die Industrie vermutlich besser leben als Ärzte und Umweltschützer. Er reduziert die Datenmenge erheblich, die Unternehmen an die EU-Behörde liefern müssen. Dieser Passus gilt besonders für die 17 500 Substanzen, die in kleinen Mengen zwischen einer und zehn Tonnen pro Jahr hergestellt werden, aber auch für Stoffe mit bis zu 100 Jahrestonnen. Nur wenn die EU- Agentur Bedenken an der Ungefährlichkeit des Stoffes anmeldet, müssen weitere Daten übermittelt werden. Damit soll vor allem der Mittelstand vor Bürokratie und hohen Kosten geschützt werden.


Geringere Kostenbelastung und die Wettbewerbsfähigkeit
«Der Kompromiss berücksichtigt die Kostenbelastung und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen», sagte Hartmut Nassauer (CDU), der die Einigung mit Sacconi erreichte. Sollte sich der entschärfte Text durchsetzen, sieht der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff auf Europas grössten Chemiestandort Deutschland nur geringe Belastungen zukommen: «Die deutsche Industrie hat bereits sehr hohe Sicherheitsstandards, aber andere Länder müssen nachlegen.»


2,3 Milliarden gegen 3,5 Milliarden Euro
In ihrem Entwurf hatte die Kommission die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen von REACH mit 2,3 Milliarden Euro oder 0,05 Prozent des Jahresumsatzes der Branche beziffert. Studien belegten, dass Arbeitgeber und Sozialsysteme im Gegenzug allein durch den verringerten Krankenstand um 3,5 Milliarden Euro entlastet würden.


Ein anderer Schwerpunkt
Nach der für kommenden Donnerstag geplanten Parlamentsabstimmung liegt der Ball bei den Mitgliedsstaaten. Sacconi sagte, der Rat könne den Kompromiss annehmen: «Wir liegen sehr nahe beieinander.» Die britische Ratspräsidentschaft will Ende November eine Einigung erzielen. Deutschland hat aber um eine Verschiebung gebeten – bei der Balance zwischen Verbraucherschutz und Wirtschaftsinteressen setzt die neue Regierung den Schwerpunkt wohl anders als Rot-Grün. (awp/mc/ab)

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