Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen – Konjunktur: Fragiler als angenommen

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen – Konjunktur: Fragiler als angenommen
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Der Start ins Jahr scheint der Schweizer Wirtschaft prächtig gelungen zu sein. Gegenüber dem Vorquartal resultierte ein Wachstum des Bruttoinlandproduktes (BIP) um 0,5 Prozent. Im Vorquartal hatte das Schweizer BIP noch stagniert. Zudem war das Wachstum auch sehr breit abgestützt.

von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

Der private Verbrauch stieg an. Die Nachfrage legte aber nicht bei Nahrungsmitteln oder klassischen Einzelhandelswaren, sondern bei Reisen, Fahrzeugen, Freizeit, Unterhaltung, Kultur und privaten Dienstleistungen zu. Auch das verarbeitende Gewerbe konnte im 1. Quartal 2023 gegenüber dem Vorquartal Zugewinne verbuchen, lag aber unter dem vergleichbaren Vorjahresniveau. Der Aussenhandel verlief äusserst rege. Ich erspare Ihnen an dieser Stelle die Erläuterung der sogenannten statistischen Sporteventbereinigung.

Nur so viel: Die Zahlen könnten auch etwas anders aussehen und sind nach meinem Dafürhalten mit Vorsicht zu geniessen. Es handelt sich bei den vermeintlich veröffentlichten Daten immer noch um Schätzungen des Staatssekretariates für Wirtschaft (SECO). Das SECO rechnet jeweils auch die komplexen Gefässe des Transithandels oder eben die internationalen Sportgrossveranstaltungen jeweils mit rein oder raus. Das allein schon birgt statistischen Spielraum nach oben oder unten. Dieser Spielraum ist so gross, dass das Vorzeichen des BIP sogar hin und wieder (ex post) ändert.

Viel entscheidender ist momentan die Tatsache, dass sich das ökonomische Umfeld in den letzten Monaten, angeführt durch die Zinserhöhungen, massiv verändert hat. Zinserhöhungen wirken bekanntlich nie sofort und oft sind die Indikatoren noch eine Weile recht stabil. Doch irgendwann kommt es dann doch stets zu einer stärkeren Korrektur der Konjunktur. Die USA sind da am weitesten fortgeschritten. Noch nie zuvor in ihrer Geschichte hat die US-Notenbank die Zinsen so stark und gleichzeitig so schnell angezogen. Die USA sind für mich allein schon aus diesem Winkel der Wackelkandidat Nummer 1 der grossen Volkswirtschaften.

Die Banken sind alles andere als stabil, der Konsument lebt nicht selten von der Hand in den Mund oder gar auf Pump und ist auf Gedeih und Verderb auf einen rund laufenden Arbeitsmarkt angewiesen. Der Dienstleistungssektor schliesslich scheint vor schweren Zeiten zu stehen, wie Umfragen verdeutlichen. Man nähert sich der Stagnation. Alles hängt also jetzt am privaten Konsum.

Auch in China lahmt die Konjunktur. Dort hat eben die Zentralbank den Leitzins zum ersten Mal seit 11 Monaten gesenkt, zwar nur um homöopathische zehn Basispunkte, aber mit dem klaren Ziel, die Konjunktur anzukurbeln. Denn China hat vor allem im eigenen Land zunehmend mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Arbeitslosenquote bei Jugendlichen (16–24-Jährige) in Chinas Städten ist im Mai auf einen Rekordwert von 20,8 Prozent gestiegen. Entschärfen wird sich die Lage kaum, denn in den kommenden Monaten drängen Millionen von Hochschulabsolventen auf den angespannten Arbeitsmarkt. Da drängt sich allmählich die Frage auf: Wird China jemals wieder zur Lokomotive der Weltwirtschaft? Konjunkturelle Impulse jedenfalls weder aus den USA noch aus China.

In Europa ist die Lage nicht viel besser. Noch läuft die Produktion nach weitgehender Beseitigung der globalen Lieferengpässe wie geschmiert, doch jüngst haben sich die Wolken verdunkelt. Momentan wird mehr abgearbeitet als nachkommt. Will heissen, die Produktion liegt höher als der Auftragseingang, sodass die Bestände schmelzen. Das ist hierzulande nicht anders. In der Schweiz schmelzen die Auftragspolster sogar fast noch schneller. Entspannung von der Lieferseite, Sorgen auf der Abnehmerseite. So lässt sich die aktuelle Situation gut zusammenfassen. Bis anhin waren solche Korrekturen in der Industrie auf jeden Fall stets auch mit nachfolgenden Dellen im Dienstleistungssektor verbunden, sodass es schliesslich zu gesamtwirtschaftlichen Einbrüchen kam. Wenn man den Einkaufsmanagerindex der Schweiz betrachtet, verheisst der nichts Gutes.

Vorausgesetzt, diese durch Corona, Energiekrise, Lieferengpässe, Krieg und Rückkehr der Inflation verzerrten Jahre schreiben nicht eine völlig neue Geschichte. Das ist nicht ganz auszuschliessen, wäre aber doch eher ein Sommermärchen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es bald zu heftigeren Bremsspuren kommt als derzeit spürbar. Die Märkte warten schon länger darauf. Doch aufgehoben ist nicht aufgeschoben. Die Rezession kratzt schon an der Türe. (Raiffeisen/mc)

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