Kunstmuseum Bern: Franz Gertsch ? Die Retrospektive

Mit knapp 40 grossformatigen Gemälden versammelt die Ausstellung erstmals überhaupt nahezu alle zentralen Arbeiten von Franz Gertsch. Darüber zeigt die Ausstellung mit 13 monumentalen Holzschnitten sowie einigen Gouachen und Aquarellen eine repräsentative Auswahl von Arbeiten in den anderen von ihm bevorzugten Medien.


«Silvia die Dritte»
Einen Höhepunkt der Ausstellung bildet das nach beinahe zweijähriger Arbeit gerade vollendete neueste Meisterwerk Silvia III, das im Kunstmuseum Bern erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wird und im Kontext der beiden vorangegangenen Silvia-Porträts zu sehen ist. Höhepunkt im museum franz gertsch ist – neben einigen fast noch nie öffentlich gezeigten Werken – ein Raum mit den drei Grossformaten aus dem Jahr 1971, die Gertsch den internationalen Durchbruch brachten: Medici, Aelggi Alp und Maria mit Kindern im Format von je vier mal sechs Metern.


Alles für grosse Formate
Der zweite Teil der Ausstellung im Kunstmuseum Bern, der das reife Werk Gertschs seit 1977 zeigt, ist zu gleichen Teilen den Gemälden wie den Arbeiten auf Papier gewidmet, insbesondere den seit 1986 entstandenen Holzschnitten. Um die grossen Formate optimal zur Geltung zu bringen, sind die Gemälde in den hohen Räumen im Obergeschoss des Stettlerbaus ausgestellt, während die monumentalen Holzschnitte hauptsächlich in der Treppenhalle des Neubaus ihr farbliches Zusammenspiel entfalten.


Patti Smith und ihre Realität
In den späten siebziger Jahren konzentriert sich Gertsch auf eine Serie von fünf Porträts der Rockmusikerin und Lyrikerin Patti Smith, von denen hier vier versammelt sind. Diese Werkgruppe leitet den Übergang ein von der Schilderung einer epochenspezifischen Lebensrealität zur zunehmenden Fokussierung auf das Bild des Menschen jenseits jeder zeitlichen Bedingtheit. Von Patti Smith I (1977) zu Patti Smith V (1979) verlagert sich das Augenmerk allmählich von der Darstellung der Bühnensituation auf den Menschen Patti Smith. Die Tendenz zur Verinnerlichung verstärkt sich in den folgenden Gemälden, dem Selbstbildnis (1980) und den Frauenbildnissen der achtziger Jahre, von denen Irène (1980), Verena (1982) und Johanna I (1983/84) zu sehen sind.


Präsenz und Realität
Der Künstler blendet mit der Reduktion auf das Brustbild und dem Wechsel vom Querformat zum annähernd quadratischen Bild auch die Attribute des zeitgenössischen Lebens mehr und mehr aus, um schliesslich in Johanna I ein Menschenbild von fast beängstigender Intensität und Präsenz zu realisieren. Mit dieser inhaltlichen Verdichtung und Konzentration geht eine Verfeinerung der Technik einher: War seine Malweise in den frühen siebziger Jahren noch relativ grossflächig, so tupft Gertsch nun die Farbe in monatelanger akribischer Arbeit mit feinem Pinsel gleichmässig in die ungrundierte Baumwolle. Die Zeitlosigkeit des Bildes (oder: das Anhalten der Zeit im Bild) korreliert so mit der Zeitintensität seiner Herstellung. Eine Auswahl von kleinformatigen Arbeiten auf Papier aus den siebziger und achtziger Jahren im graphischen Kabinett veranschaulicht noch einmal die Entwicklung von Gertschs Bildnisauffassung von den «Situationsporträts» der frühen siebziger Jahre (Jean-Frédéric Schnyder, 1972) zu den ikonenhaften Frauenporträts der achtziger Jahre und illustriert zugleich des Künstlers Virtuosität im Umgang mit den verschiedenen graphischen Medien (Aquarell, Gouache, Lithographie, Holzschnitt).


Der Ansatz bleibt bei der Malerei
Auf der Suche nach einer stärkeren Abstrahierung des Bildgegenstandes gibt Gertsch 1986 die Malerei auf und beginnt statt dessen mit der Technik des Holzschnitts zu experimentieren, der er in Format und Ausdruck ganz neue, ungeahnte Möglichkeiten erschliesst. Indem er das Diabild nicht in eine lineare Zeichnung übersetzt, sondern mit dem Hohleisen Lichtpunkte ins Holz schneidet, bleibt sein Ansatz im Grunde genommen ein malerischer. Für die Ästhetik von Gertschs Farbholzschnitten ist im übrigen die Qualität der Materialien ? handgeschöpftes Japanpapier sowie hochwertige Pigmente oft mineralischer Herkunft ? von entscheidender Bedeutung. Jeder Abzug wird in einer anderen Farbe gedruckt und ist so letztlich ein Unikat. In diesem Medium setzt Gertsch zunächst die Reihe der Frauenporträts fort, deren anfänglich noch «bescheidene» Formate bald riesenhafte Ausmasse annehmen. Während die ersten Drucke noch aus drei übereinander gedruckten Platten entstehen, beschränkt sich Gertsch bald auf eine Platte, wodurch die Präsenz des Gegenständlichen gegenüber der Farbwirkung noch stärker zurücktritt.


Unendlich viel weiter als das Zufällige
Im Holzschnitt findet Gertsch nach jahrzehntelanger «Abstinenz» 1988 auch zur Naturschilderung zurück. Vom ersten, noch relativ konventionellen Landschaftsmotiv aus der Umgebung seines Hauses (Rüschegg) gelangt der Künstler bald zu einer monumentalisierten Nahsicht, in der der Naturausschnitt als all over das gesamte Bild erfüllt; durch die Aneinanderreihung von mehreren Blättern zu «Diptychen» und «Triptychen» steigert Gertsch noch einmal die Monumentalität der Darstellung, die den Betrachter nun gleichsam umfängt. Ähnlich wie in den Porträts sucht Gertsch jenseits des Momentanen, Akzidentiellen das Wesenhafte der Dinge darzustellen; bezeichnend ist, dass er dabei bewusst unscheinbare, alltägliche Motive wählt: die sanft gekräuselte oder stürmisch bewegte Oberfläche des Flusses Schwarzwasser und bescheidene Pflanzen wie Pestwurz oder Schilfgras. Die präzise Reproduktion der Fotovorlage führt dabei zusammen mit der durch die Technik bedingten Entmaterialisierung des Gegenständlichen zu einer einzigartigen Balance von Figuration und Abstraktion ? oder, paradoxerweise, zu einer Abstraktion durch die Figuration.


Das Bild der Bilder gesucht
Dieser Aspekt spielt auch eine Rolle im Zyklus der Gräser, mit dem Gertsch 1996 zur Malerei zurückkehrt, wobei er nun statt Acrylfarben natürliche Bindemittel und reine Pigmente verwendet. Durch die Vergrösserung von Ausschnitten aus dem «Mutterbild» Gräser I gelangt der Künstler zu einer zunehmenden Überhöhung, ja Verfremdung des Naturbildes. Gleichsam als Pendant zu den Gräsern entstehen mit den Silvia-Porträts wieder gemalte Bildnisse, in denen Gertsch auf seiner Suche nach Verdichtung der Realität zu einem inneren Bild der Welt noch einmal einen neuen Höhepunkt erreicht. Als Weltpremiere wird des Künstlers jüngstes Gemälde erstmals öffentlich gezeigt: das erst vor kurzem vollendete Porträt Silvia III, das mit seiner weiter differenzierten Technik und der kaum auslotbaren Komplexität des Ausdrucks mit der Bildniskunst der Renaissance wetteifert. Dem Konzept des Künstlers entsprechend, der diese beiden Werkgruppen immer in Beziehung zueinander gesehen hat, sind die vier Gräser und die drei Silvia-Porträts nebeneinander im eigens für die Ausstellung umgebauten Hodler-Saal ausgestellt. (kmb/mc/th)

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