Martin Zenhäusern: Wandel III ? Der Tipping Point

Wir befinden uns bereits mitten im Wandel. Wohin führt er? Wer kann daran partizipieren? Wann kommt der sogenannte Tipping Point, der Moment, in dem eine Entwicklung plötzlich dreht? Gehen wir diesen Fragen etwas näher auf den Grund.
Wenn wir es uns aussuchen können, bevorzugen wir langsame Veränderungen, an die wir uns schrittweise gewöhnen können. Häufig treten sie jedoch schneller ein, als wir es erwarten. Machen wir zur Illustration dieser Aussage einen kurzen Abstecher in die Tierwelt zu den schwarzen Schwänen und den toten Pferden.

Schwarze Schwäne und tote Pferde zuhauf
Nassim Taleb hat in seinem Bestseller «Der Schwarze Schwan» von unwahrscheinlichen äusseren Ereignissen geschrieben, die viel häufiger auftreten, als wir glauben oder wahrhaben wollen. Aktuelle Beispiele sind etwa der Vulkanausbruch in Island oder eine gesunkene Ölplattform im Golf von Mexiko. Solche Ereignisse können den gewohnten Gang der Dinge völlig durcheinanderbringen. Wir sehen uns unvermittelt mit Veränderungen und Einschränkungen konfrontiert, die alles, was normal und gegeben war, plötzlich in Frage stellen. Neben den schwarzen Schwänen, die es in unserer Vorstellung nicht gab, bevor sie entdeckt wurden, gibt es auch viele tote Pferde, die wir reiten, obwohl jeder weiss, dass es sinnlos ist, ein totes Pferd reiten zu wollen.


Wenn schwarze Schwäne die äusseren Ereignisse sind, die uns manchmal aus der Bahn werfen, dann sind die toten Pferde die inneren Ereignisse, die uns wiederholt in Krisen stürzen. Tote Pferde sind unsere eigenen veralteten Denkmuster und Verhaltensfehler, die uns jedoch nicht mehr auffallen, weil sie zur Gewohnheit geworden sind oder die wir verdrängen, weil andere sie ebenfalls begehen. Deshalb drehen wir uns oft im Kreis, und zwar ohne äusseren Zwang. Wer sich im Kreis dreht, verliert die Orientierung. Und wer das Hamsterrad des gewohnten Trotts nicht verlässt, verengt freiwillig sein Blickfeld .


Ein trojanisches Pferd für die EU
Ist die Griechenland-Krise nun ein schwarzer Schwan oder ein totes Pferd? Sie ist ganz eindeutig ein totes und zudem noch Trojanisches Pferd. Warum? Das Desaster war seit vielen Jahren voraussehbar. Es ging nicht um die Frage, ob Griechenland abstürzen würde, sondern lediglich um den Zeitpunkt. Es war bereits beim Beitritt 1981 ersichtlich, dass Griechenland ohne striktes Haushalten zu einem Trojanischen Pferd für die EU werden würde.


Und weitere, zumindest halbtote Pferde galoppieren durch Europa. Auch hier ist es nur eine Frage der Zeit, bis wann Portugal, Spanien und Italien am Tropf hängen werden ? es sei denn, sie würden endlich ernsthaft ihre vordringlichen Hausaufgaben an die Hand nehmen. Die Schuldenlast wird einen fundamentalen Wandel in allen diesen Ländern erzwingen und damit die EU und die Schweiz stark belasten.


Wandel unter Druck oder Existenzangst ist weitaus unangenehmer zu vollziehen und mit weitaus grösseren Opfern verbunden als wenn der Wandel aus Einsicht und rechtzeitig geschieht. Viele Veränderungen könnten und müssten wir antizipieren: Wer jahrelang ungeniert und ungestraft über seinen Verhältnissen lebt, darf sich nicht wundern, wenn ihm selbst die nettesten Nachbarn irgendwann den Geldhahn zudrehen werden .


Wenigstens das Denkbare denken 
Wie die aktuellen Beispiele der schwarzen Schwäne «Vulkanausbruch» und «Ölpest» belegen, tun wir gut daran, auch das Undenkbare zu denken und in Erwägung zu ziehen. Wie wir gerade erfahren haben ? und auch in Zukunft noch häufig erfahren werden ? kann das Undenkbare unverhofft und ohne Vorwarnung eintreten. Wobei viel erreicht wäre, wenn wir nur schon das Denkbare denken würden, doch auch damit tun wir uns schwer. «Denken ist die schwerste Arbeit, die es gibt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, dass sich so wenige Leute damit beschäftigen», sagte der Unternehmer Henry Ford I bereits vor hundert Jahren.


Beim zweiten Beispiel ? dem toten Pferd «Griechenland-Krise» ? täten wir gut daran, beliebte Dogmen und Prinzipien, bequeme Denkmuster und Verhaltensweisen vorbehaltlos zu hinterfragen. Griechenland war deutlich voraussehbar! Trotzdem haben die Verantwortlichen auf allen Ebenen unnützeDenkmuster und falsche Verhaltensweisen beibehalten, obwohl sie bei näherem Hinsehen deren gravierenden Konsequenzen hätten erkennen müssen. Und wir wissen schon lange, dass Portugal, Spanien und Italien seit Jahren bedenklich wackeln ? und die Verantwortlichen dieser Länder und der EU wissen es auch. Ist es wirklich eine Alternative, auf ausgemergelten Pferden, die kein Huf mehr vor den anderen bringen, in Europas Zukunft reiten zu wollen?


Es ist ? wie oben dargestellt ? nicht in jedem Fall intelligent, so lange zu tanzen, wie die Musik spielt. Manchmal wäre es besser, die Party zu verlassen, bevor der Kater kommt und die Kopfschmerzen einsetzen.


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«Internet ? was ist denn das?!»
Wie schnell kann ein Wandel einsetzen? Nehmen wir ein uns allen bekanntes Beispiel. Wer 1990 gesagt hätte, dass wir mit einem kleinen kabellosen Apparätchen telefonieren und fotografieren, fernsehen und Musik hören und im Internet («was ist denn das?») surfen würden, wäre wohl für ziemlich verrückt gehalten worden. Andersherum: Erklären Sie heute einem jungen Menschen, wie eine Wählscheibe funktioniert: «Man muss sie drehen, nicht antippen!»


Oder machen wir die Probe aufs Exempel anhand eines historischen Beispiels: Dem Fall der Berliner Mauer. Sie war kein schwarzer Schwan, sondern ein totes Pferd, das der Kommunismus wider besseres Wissen und mit Scheuklappen vor der Realität zuschanden ritt. Der Entscheid, dass sie fallen würde, stand lange vor der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 fest. Es waren die vielen Ereignisse und Vorkommnisse über Jahre hinweg, die das Fass volllaufen liessen, bis es nur noch den berühmten Tropfen brauchte, der das Fass zum Überlaufen brachte. Dann war die Mauer nicht mehr zu halten. Sie musste fallen. Der Tipping Point war erreicht.


Es tut sich was ? vor allem beim Individuum
Heute stellen wir fest, wohin wir auch blicken, dass ein Wandel im Gange ist, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen. Am stärksten ist er im individuellen Bereich spürbar und erkennbar. Letztlich ist es in der Geschichte der Menschheit immer wieder das Individuum gewesen, das den Wandel vorangetrieben hat: viele Individuen haben dies gleichzeitig getan, häufig unabhängig voneinander und ohne vom anderen zu wissen. Heute wird der individuelle Wandel verstärkt dank modernen Technologien und Netzwerken. Einzelinitiativen und persönliche Meinungen verbreiten sich schneller und erhalten dadurch eine breitere Öffentlichkeit. Sie können nicht mehr so leicht wie früher unter den Teppich gekehrt oder unterdrückt werden. Der häufig von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Wandel baut sich mehr und mehr auf, bis er plötzlich zu einem gesellschaftlichen Thema wird und schliesslich von den Medien wahrgenommen und thematisiert wird.


Daraus entstehen gesellschaftliche und politische Forderungen. Die Menschen verlangen nach anderen Verhaltensweisen und neuen Lebensformen und beginnen, die alten Formen zu verändern oder zu ersetzen. Schliesslich greifen die Veränderungen auf Strukturen und Systeme über und beeinflussen damit Wirtschaft und Unternehmen, Business-Modelle und Organisationsformen. Irgendwo in diesem Zyklus liegt der Tipping Point. Sobald er erreicht wird, ist eine Veränderung nicht mehr aufzuhalten. Sie greift um sich und stösst Veränderungen auch auf anderen Ebenen an. Häufig beginnen sie sogar, sich wechselseitig zu beschleunigen.



 


Ist Griechenland der Tipping Point für den Euro ? und die EU?
Ein Tipping Point ist erst im Nachhinein als solcher zu erkennen. Wir können uns jetzt die noch spekulativen Fragen stellen: Ist die Griechenland-Krise der Tipping Point, der das Ende des Euro einläutet? Oder der sogar die EU als solche zum Scheitern bringt? Wird die Net-Generation Wirtschaft und Gesellschaft in den nächsten wenigen Jahren derart stark beeinflussen und verändern, dass starre Strukturen und leistungsfremde Bezahlformen verschwinden? Dass nachhaltige Werte und echte Leistung zählen und Egozentrik und Statussymbole an Bedeutung verlieren?


Wem wird der Wandel gelingen? Mit Sicherheit d enjenigen Unternehmen, welche einen Modus Vivendi zwischen der Boom- und der Net-Generation finden. Denjenigen Unternehmen, die eine gute Mischung zwischen den verschiedenen Fähigkeiten, Qualitäten und Erfahrungen der beiden Generationen finden. Denjenigen Unternehmen, die attraktiv sind für Talente und Leistungsträger. Dies wird entscheidend sein. Denn heute suchen sich Unternehmen ihre Mitarbeitenden aus. Noch können sie sich zum Beispiel den Luxus leisten, nur die jeweils besten drei Prozent der Absolventen zu rekrutieren. In Zukunft wird es so sein, auch bedingt durch den demografischen Wandel, dass Talente und Leistungsträger sich ihr Arbeitsumfeld danach aussuchen, ob es ihren Prinzipien und Einstellungen entspricht. Unternehmen, die sich rechtzeitig darauf einstellen, haben gute Karten, von ihnen berücksichtigt zu werden.


Bereitschaft, sich fit zu machen
Was optimistisch stimmt in der aktuellen Entwicklung, ist die zunehmende Bereitschaft von Führungskräften, sich fit zu machen für die Zukunft. Was optimistisch stimmt, ist deren wachsende Bereitschaft, sich die Zukunftskompetenz anzueignen, um sich selbst und ihr Unternehmen auf den fundamentalen Wandel vorzubereiten. Optimistisch stimmt die Offenheit und Unvoreingenommenheit, mit der sie an die Sache herangehen, im Wissen, dass notwendige Veränderungen auch weh tun könnten. Die erwünschte Fitness beschränkt sich längst nicht mehr auf Zahlen und Resultate. Sie geht weit über «profit» hinaus und umfasst sowohl «people» als immer häufiger auch «planet».


Wie eingangs erwähnt: Es gibt viele Bereiche und Themen, die beim anstehenden Wandel eine grosse Rolle spielen werden, seien dies Umwelt oder Verschuldung, zunehmende Migration oder endliche Ressourcen. Wenn wir hier vor allem auf den Wandel eingegangen sind, der durch die Net-Generation erfolgen wird, dann können wir in etwa ermessen, was alleine schon dadurch auf uns zukommen dürfte. Es wird jedem und jeder klar, dass wir uns mit den Prinzipien und Werten dieser über zwei Milliarden Menschen intensiv befassen müssen. Uns allen wird klar, dass ein Modus Vivendi zwischen den Generationen notwendig wird.


Ebenso klar ist, dass ein Wandel unabdingbar ist, angesichts der gewaltigen Aufgaben, die weltweit rasch gelöst werden müssen. Letztlich spüren wir alle, dass die Aufgaben nur gemeinsam gelöst werden können ? «Griechenland» wird dabei bei weitem nicht die grösste Herausforderung darstellen. Im Rückblick ? im Jahr 2020 ? werden wir erkennen, ob 2010 der Ausgangspunkt eines nur fundamentalen Wandels war ? oder des grössten bisher je dagewesenen.


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Martin Zenhäusern
Martin Zenhäusern, ist Unternehmer und Ratgeber für Führungskräfte. Autor von: «Warum tote Pferde reiten? Wie uns die Net-Generation zwingt umzusatteln». Darin beschreibt er den Wandel in Wirtschaft und Politik, der durch die Net-Generation rasch vorangetrieben wird. «Als Berater von Entscheidungsträgern aus Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur hat er ein feines Gespür für Veränderungen entwickelt, die zuerst nur hinter vorgehaltener Hand besprochen werden, bevor sie plötzlich und wie selbstverständlich zum breit diskutierten öffentlichen Thema werden» (Orell Füssli über den Autor). Zenhäusern ist zudem Autor von «Chef aus Passion» und «Der erfolgreiche Unternehmer». Gründer und Inhaber der Zenhäusern & Partner AG sowie der Zenhäusern Akademie AG, beide in Zürich. www.zen-com.com  , www.zenhaeusern.ch .

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