Die Sicht des ehemaligen Raiffeisen Chefökonomen: Weltmeister Schland

Die Sicht des ehemaligen Raiffeisen Chefökonomen: Weltmeister Schland
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Was ist eigentlich mit Deutschland los? Der vierfache Weltmeister ist im Fussball nur noch ein Schatten seiner selbst und nun schon zwei Mal hintereinander in der Vorrunde einer WM gescheitert. Die Fussball-Doppelweltmeisterinnen aus Deutschland schafften es bei der soeben zu Ende gegangenen Frauen-WM auch nicht über die Vorrunde hinaus und bewegen sich nun auf bodennaher Augenhöhe mit den Männern. Das Fussballland Deutschland ist an einem historischen Tiefpunkt angelangt. Immerhin ist Deutschland wirtschaftlich noch stark, aber viele der Kräfte, die der Exportweltmeister über Jahrzehnte aufgebaut hat, schwinden. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit wurde ein Opfer des butterweichen Euros und einer politischen Verhätschelung der Industrie, was die erfolgsverwöhnte Wirtschaft dazu einlud, sich jahrelang zurückzulehnen und auf den Lorbeeren von damals auszuruhen.

Heute ist die Industrie vor allem gross darin, die Hand aufzuhalten und vom Staat zu fordern, statt zu liefern, wie sie’s in Ihren Slogans verspricht. Allen voran die übergewichtige und vor noch nicht langer Zeit böse schummelnde Automobilindustrie bläst in dieses Horn, aber längst nicht nur die. In der politischen Exekutive indes hat man zum Teil das Gefühl, dass sich die verschiedenen Ministerinnen und Minister vor allem gern in Szene setzen, aber wenn’s konkret werden soll, stets im Parteibuch oder in ihrer persönlichen egoistischen Agenda nachlesen müssen, wie weit sie zu Kompromissen bereit sein dürfen oder wollen. Die deutschen Politpraktiker sollten vielleicht mal in der Schweiz Nachhilfe in Sachen pragmatischer konsensorientierter Politik nehmen, anstatt sich während der Ratsdebatten in Bern über unseren Dialekt lustig zu machen. «Langsam» schlägt «forsch» nämlich bei weitem. Wir sind nach wie vor top, was die Wettbewerbsstärke betrifft. Auch wegen einer chronischen Rosskur, die uns die harte Währung auferlegt.

Prinzipien bringen ein Land nicht weiter. Doch Prinzipien dominieren derzeit das politische Tagesgeschehen in unserem nördlichen Nachbarland. Die deutsche Regierungskoalition stapft von einem Fettnäpfchen ins andere, trägt Konflikte wiederholt öffentlich aus, scheint sich aber in zwei Dingen prinzipiell einig zu sein: Alle wollen in der Regierung bleiben und keiner will die Alternative für Deutschland (AfD), geschweige denn mit der AfD. Die systematische Ausgrenzung einer zugelassenen, wenn auch überwachten Partei, die immer mehr auf dem Vormarsch ist, wird aber immer unrealistischer, wenn diese Partei mittlerweile schon auf Umfragewerte kommt, die ganz andere Reflexe hervorrufen müssten als pure Abwehr. Wie lange also kann das politische Establishment Deutschlands die AfD, die in einigen Bundesländern mittlerweile die höchste Zustimmungsrate geniesst und gemäss Wahltrend derzeit die zweitstärkste Kraft im Lande ist, kategorisch ins radikale Eck verorten und politisch übergehen? Ist es nicht auch «verdächtig», wenn sich alle politischen Kräfte, von den Regierungsparteien über die Opposition und von links nach rechts für einmal über etwas einig sind? Ist dieser Fall so eindeutig, dass die kollektive Verurteilung einer Partei alternativlos ist?

Meine Prognose ist in dem Fall sonnenklar. Die AfD wird Deutschland noch länger beschäftigen und mit zunehmender Ablehnung durch die sogenannt etablierten Parteien so viele Stimmen zulegen, dass man sie einfach nicht mehr übersehen kann, sondern abholen muss. Nicht wenigen AfD-Wählenden ist letzteres der grösste Dorn im Auge. Als gegenwärtig zweitgrösste politische Wählerschaft erwarten diese, dass Teile ihrer Anliegen wenigstens diskutiert und nicht a priori marginalisiert oder verworfen werden. Politisch ruhig ist es trotz eines als Schlafschlumpf bezeichneten Bundeskanzlers ganz und gar nicht, es brodelt im Kessel und der Druck steigt.

Vorbei sind die Zeiten, als «Mutti» Merkel mit stoischer Ruhe das Volk im Laufstall mit Schoppen bei Laune hielt. Damals wartete Deutschland einfach – wenn auch mit steigendem Widerwillen –, bis Mutti die jeweiligen Krisen ausgesessen hatte. Im Aussitzen war sie Weltmeister und schnell war sie nur, um Positionen oder Richtungen teils radikal zu wechseln – wenn dies ihren Umfragewerten förderlich war. Man denke nur an das Hin und Her in der Eurokrise, vor der sie schliesslich einknickte und die letzte wirtschaftspolitische Bastion der Deutschen, die der seriösen öffentlichen Finanzen, über Bord warf. Auch mit ihrem Finanzminister lag sie laufend im Clinche, weil der wenigstens Kante zeigte. Einmal überraschte Mutti dann ganz Deutschland, als sie mit ihrem berühmten Ausspruch «Wir schaffen das» die Flüchtlingskrise 2015 ins Land holte, statt sie wie gewohnt auszusitzen. Die Euphorie war gross aber ebenso rasch verflogen. Doch damit stiess Merkel der AfD das Tor zum Erfolg weit auf. Die ist seitdem erst richtig auf dem Vormarsch und hat das Dossier der Flüchtlingspolitik früh annektiert und ist dort nun im Lead, zumindest was Lautstärke, Emotionalität und klare Positionierung betrifft. Allein damit kann die AfD mittlerweile überall in Deutschland im zweistelligen Bereich punkten und manchenorts gleich ein Fünftel, Viertel oder sogar ein Drittel des Volks um sich scharen.

Je mehr Ignoranz die etablierten Parteien der AfD entgegenbringen, desto mehr wird sie zulegen. Deutschland ist global gesehen zum politischen Zwerg verkommen. Immer sind es andere, kleinere Staaten, welche Deutschland schliesslich in die Knie zwingen. Mal sehen, wie lange es noch geht, bis die Deutschen das Taurus-System (Marschflugkörper) der Ukraine zur Verfügung stellen. Von sich aus wären sie erst gar nie auf die Idee gekommen.

Immerhin ist Deutschland wirtschaftlich eine Grossmacht. Aber auf absteigendem Ast. Punkto Digitalisierung hinkt Deutschland schon länger hinterher. Ein Amtsgericht im bevölkerungsreichsten Bundesland etwa darf nicht ins Ausland telefonieren und kommuniziert auf dem Postweg. Die Züge sind verspätet, die Baustellen sowieso laufend im Verzug und es wird immer schludriger verarbeitet, auch in den Vorzeigebranchen. Rückrufaktionen noch und noch zeugen davon. E-Mobilität steht zwar ganz oben auf der Agenda, aber die Industrie hinkt der ausländischen Konkurrenz in puncto Innovation um Meilen hinterher und musste ohnehin fast gezwungen werden, umzudenken. Am liebsten hätten die Autobosse weiter grosse Motoren mit viel Leistung, aber ebenso viel Verbrauch gebaut.

Innovativ hingegen ist Deutschland bei der Begriffswahl. Hartz IV wurde per Ende letzten Jahres in «Bürgergeld» umbenannt und ist nun eine Kombination aus Sozialhilfe und Arbeitslosengeld. Dass selbst der eher linkslastige «Spiegel» in Teilen des Gesetzes «eine Verhöhnung von Arbeit, Fleiss und Leistungsethos» erkennt, lässt fast mehr aufhorchen als die Tatsache, dass der Begriff nicht gegendert wurde, die Bürgerinnen aber natürlich nicht leer ausgehen. Die Misstöne im Norden von uns werden lauter, weil einerseits Deutschlands Politik viel zu sehr mit ihren Eitelkeiten beschäftigt ist und derweil rechts überholt wird, und andererseits grosse Teile der Wirtschaft noch immer den Mythos des Weltmeisters leben, obwohl Traditionen längst wahren Innovationen weichen müssten.

Wir sollten uns also umorientieren und nicht reflexartig erst gen Norden blicken, wenn was auch immer ansteht. Denn dort wird derzeit mehr falsch als richtig gemacht. Das bestätigen mir fast alle Deutschen, die in diesem Jahr in der Schweiz eine Arbeit aufgenommen haben. Und all die, die schon länger hier sind, erst recht. Und wieso nun der Titel «Schland». Ganz einfach, weil Deutschland nur noch ein Teil dessen ist, was es mal war. Und wie wurde Deutschland zu Schland? «Eine Erklärung ist, dass viele Fans gerne das <-land> besonders betonen und schnell ein lang gezogenes <-laaaand> daraus wird. Zusammen mit einem leichter betonten und einem gewissen Alkoholpegel (!) hört man dann nur noch den <-schland>-Teil deutlich, während der Rest des Wortes verschluckt wird», schreibt Giga.de. Ist das nicht passend zum Zustand der Nation oder wie der legendäre Harald Juhnke es ausdrückte: «Keine Termine und leicht einen sitzen?»

Martin Neff, ehemaliger Chefökonom Raiffeisen

One thought on “Die Sicht des ehemaligen Raiffeisen Chefökonomen: Weltmeister Schland

  1. Eine absolut treffende Zustandsbeschreibung des grossen Kantons. Das Problem ist, dass die Führenden in Deutschland sich darin nicht wiedererkennen, jedenfalls nicht öffentlich, sondern höchstens hinter vorgehaltener Hand. Und die Deutschen in der Breite wollen nicht selber anpacken, sondern dass die Obrigkeit für ihr Wohlergehen rundum sorgt, dafür haben sie sie ja gewählt. Und die Anpacker verlassen das Land in alle Richtungen. Es hibt zwar löbliche Ausnahmen, aber ob das reicht? Nix mehr Geier Sturzflug. Vielleicht braucht Deutschland mal wieder eine Stunde Null?

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