Ernst Niemack, Geschäftsführer vips – Vereinigung Pharmafirmen in der Schweiz, im Interview

Ernst Niemack, Geschäftsführer vips – Vereinigung Pharmafirmen in der Schweiz, im Interview
Ernst Niemack, Geschäftsführer vips. (Foto: zvg)

von Patrick Gunti

Moneycab.com: Herr Niemack, ob Hustensaft, verschiedene Antibiotika oder Beruhigungsmittel – hunderte Medikamente sind in der Schweiz nicht oder nur schwer erhältlich. Wie präsentiert sich die Situation aus Ihrer Sicht?

Ernst Niemack: In den letzten Jahren haben Medikamentenengpässe weltweit zugenommen. Auch die Schweiz ist davon betroffen. Waren es vor ein paar Jahren noch rund 200 Medikamente, die hierzulande fehlten, sind wir heute bei über 1000. Es geht um Medikamente zur Behandlung von schwerwiegenden Krankheiten wie auch um solche der Grundversorgung. Leidtragende sind die Patientinnen und Patienten, weil ihre Therapien und Heilungschancen durch die Engpässe gefährdet sind.

Die Gründe für die prekäre Versorgungssituation sind vielfältig – eine weltweite Konzentration von Produktionsstandorten sowie Konzentration der Wirkstoffhersteller, schwieriger werdende Lieferketten, eine zunehmende Regulierungsdichte sowie undifferenzierte Preisgestaltung in der Schweiz.

Neu ist das Problem an sich nicht, das Ausmass hingegen schon. War die Situation nicht absehbar?

Die vips hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass ein reiner Kostenfokus auf die Medikamente ein Versorgungsproblem zur Folge haben wird. Nutzen, Versorgung und Qualität wurden – obwohl vom Krankenversicherungsgesetz verlangt – weitgehend ignoriert. Die Versorgung der Patientinnen und Patienten darf nicht einem simplifizierten «Billigstprinzip» zum Opfer fallen. Dessen Forcierung fällt erst noch in eine Zeit, in welcher aufgrund der globalen Teuerung auch hierzulande die bereits hohen Gestehungskosten markant steigen, was viele Firmen in der Schweiz deutlich zu spüren bekommen. Durch das immer schwieriger werdende Marktumfeld ist es höchste Zeit, den Pharmastandort Schweiz nicht weiter zu schwächen, sondern im Gegenteil zu stärken – damit wir unsere einst gute Verhandlungsposition international nicht vollends verlieren.

«Durch das immer schwieriger werdende Marktumfeld ist es höchste Zeit, den Pharmastandort Schweiz nicht weiter zu schwächen, sondern im Gegenteil zu stärken – damit wir unsere einst gute Verhandlungsposition international nicht vollends verlieren.»
Ernst Niemack, Geschäftsführer vips

In Europa haben sich die Lieferengpässe in den letzten 20 Jahren verzwanzigfacht. Welchen Anteil hat die Verlagerung der Produktion nach China und Indien, die oft als Erklärung dient?

Ein wichtiger Faktor sind die Lieferketten. Bei der Beschaffung der Inhaltsstoffe, der Zusatzstoffe und der Verpackungsmaterialien ist die Schweiz abhängig von Ländern wie China und Indien. Wenn einer der Hersteller nicht liefern kann oder will – aus welchem Grund auch immer – kann das Medikament nicht produziert werden. Deshalb sind neben guten Rahmenbedingungen in der Schweiz auch robuste Verträge und eine enge Zusammenarbeit mit in- und ausländischen Herstellern wichtig. Ausserdem ist es unabdingbar, dass internationale Verträge mit anderen Ländern so ausgestaltet sind, dass diese auch in Krisenzeiten greifen. Der Wettbewerb im Sinne von mehr Anbietern und mehr Produkten muss gefördert werden. Denn eines ist klar – eine vollständige Produktionskette für alle Produkte innerhalb der Schweiz für alle Grundversorgerprodukte ist ökonomisch untragbar.

Müsste aber entsprechend des anfälligen Liefersystems nicht nur auf eine verstärkte heimische Produktion, sondern auch auf umfassendere Lagerkapazitäten gesetzt werden?

Sowohl geopolitische Ereignisse wie auch die Folgen der Pandemie haben selbstverständlich Einfluss auf die Verfügbarkeit, die Lieferzeit und natürlich die Kosten. Die Ausweitung der Lagerpflicht von Arzneimitteln kann eine Möglichkeit sein, einen punktuellen Engpass kurzfristig zu überbrücken. Die Schwierigkeit liegt darin zu entscheiden, welche Produkte in ein Pflichtlager genommen werden.

Lassen Sie mich dies an einem Beispiel erklären: Medikamente, die während der Pandemie dringend benötigt wurden, wären nie auf eine Pflichtlagerliste gekommen. Da wir nicht wissen, welche Krise uns als nächstes erwartet, kann so eine Massnahme nur punktuell und kurzfristig weiterhelfen. Hinzu kommt, dass es sich oft um Medikamente der Grundversorgung handelt und diese oft nur wenige Rappen Tagestherapie ausmachen. Hier muss der Bund ebenfalls Verantwortung übernehmen und sich an den Lagerkosten beteiligen. Ausserdem ist eine Lagerhaltung entlang der gesamten Lieferkette unabdingbar – Patient, Arzt/Apotheke, Spital, Grossist, Pharma und eventuell Bund. Für heimische Produktionen ist es essenziell, dass die Rahmenbedingungen nicht noch schlechter werden und diese damit gezwungen sind, weiter ins Ausland abzuwandern.

Wie sieht es den bei den Zulassungsprozessen aus? Die vips fordert schnellere und einfachere Zulassungsprozesse und einen nachvollziehbaren regulatorischen Rahmen. Swissmedic und das BAG kritisieren die Pharmaunternehmen ihrerseits, sie gäben ihre Gesuche bis zu 200 Tage später ein als Anbieter in der EU, ausserdem ginge zu viel Zeit für die Preisverhandlungen mit den Pharmafirmen drauf.

Die Preisbildung für verschreibungspflichtige Medikamente geschieht nicht auf dem freien Markt, sondern liegt in der Verantwortung des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Ein Medikament ist erst dann für alle Patientinnen und Patienten zugänglich, wenn das BAG dem Medikament einen Preis gegeben und auf die Spezialitätenliste aufgenommen hat – erst dann kann es auch von Krankenversicherungen ohne bürokratischen Aufwand rückvergütet werden.

Die Verordnung schreibt eine Frist von 60 Tagen vor, bis die Aufnahme in die Spezialitätenliste (SL) abgeschlossen sein muss – die Realität liegt bei 306 Tagen. Der Vergütungsprozess in der Schweiz gerät immer mehr ins Stocken, er wird immer komplizierter und weniger planbar. Dies bedeutet, dass Patientinnen und Patienten in der Schweiz heute oft Monate oder gar Jahre auf eine flächendeckende Vergütung und den Zugang zu neuen Arzneimitteln warten müssen – ein unhaltbarer Zustand! Unser erklärtes Ziel ist die Aufnahme des Medikamentes auf der Spezialitätenliste und damit der Zugang zur Therapie ab Tag 1 der Swissmedic-Marktzulassung.

«Der Vergütungsprozess in der Schweiz gerät immer mehr ins Stocken, er wird immer komplizierter und weniger planbar.»

Wenn wir über Versorgungssicherheit sprechen, so müssen wir klar unterscheiden zwischen Produkten der Grundversorgung und Innovationen. Innovative Medikamente werden in der Regel zuerst in den USA und dann in der EU eingereicht. Durch divergierende Entscheide bei der Schweizer Zulassung und vor allen Dingen den trägen und einseitigen Bedingungen bei der Preisfindung gerät die Schweiz immer mehr ins Hintertreffen. Die neuen Verordnungsänderungen, die per 1.1.2024 in Kraft getreten sind, werden dies noch verschärfen.

Die vips ist sich ihrer Verantwortung bewusst und setzt alles daran, die medizinische Versorgung zu gewährleisten. Sie hat ein vitales Interesse daran, alle Patientinnen und Patienten mit dringend benötigten Therapien zu versorgen – für eine starke und nachhaltige Patientengesundheit.

Als Branchenverband sehen sie sich seit Jahren Forderungen von Politik und Gesellschaft nach billigeren Medikamenten gegenüber. Wie haben sich die Medikamentenpreise in den letzten Jahren entwickelt?

Der Pharmamarkt ist der einzige Bereich, in welchem regelmässig die Preise überprüft werden. Dies führt zu jährlich wiederkehrenden Einsparungen von rund 1,42 Milliarden Franken. Dies bei einem Gesamtumsatz von 6 Milliarden Fabrikabgabepreis. Die meisten Massnahmen von Behörden und Politik zielen auf die Ausgaben für Medikamente, ohne ihren Nutzen zu diskutieren – obwohl der Anteil der Arzneimittel an den Gesundheitskosten seit Jahren stabil bei rund 12% liegt.

Das BAG hat berechnet, dass die Medikamentenkosten pro versicherte Person in den letzten acht Jahren um 30 Prozent gestiegen sind. Wie gross ist denn der entsprechende Kostenblock im Gesundheitswesen?

Uns ist wichtig, dass das Gesundheitssystem nicht nur umfassend zugänglich, sondern auch bezahlbar bleibt. So trägt die Pharmabranche die umfangreichen Einsparungen im Gesundheitssystem durch die regelmässigen Preisüberprüfungen mit. Diese greifen auch – im Jahr 2022 führten sie zu einer Dämpfung des Gesamtmarkts um 2.7%. Der Anteil der Arzneimittel an den Gesundheitskosten ist seit Jahren stabil und liegt wie erwähnt bei rund 12%.

Medikamente haben einen grossen volkswirtschaftlichen Nutzen, der über das individuelle Wohlergehen hinausgeht. Sie haben eine kostendämpfende Wirkung, leisten sie doch einen wichtigen Beitrag zu tragbaren Gesundheitsausgaben. Im Vergleich zu anderen, teuren Behandlungsoptionen wie langen Kuraufenthalten oder Operationen sind sie häufig die günstigste und effizienteste Behandlungsmethode und damit per se die Lösung zur Kostenentlastung.

Eines müssen wir uns bewusst sein: «Jeder Prämienzahlende wird irgendwann in seinem Leben zum Patienten!»

Hinzu kommt, dass gerade in den letzten Jahren unglaubliche Therapiedurchbrüche in der Onkologie und im Bereich seltener Krankheiten erzielt worden sind. Somit ist die Optik der Patientin oder des Patienten oft unterschiedlich zur Optik des Prämienzahlenden. Eines müssen wir uns bewusst sein: «Jeder Prämienzahlende wird irgendwann in seinem Leben zum Patienten!»

Das BAG senkt die Medikamentenpreise jedes Jahr um bis zu 100 Mio Franken. Um zurück auf die Lieferengpässe zu kommen: Kommen auch Medikamente nicht in die Schweiz, weil die Margen zu tief sind?

Der Bund hat die Medikamentenpreise in den letzten Jahren so stark gesenkt, dass die Tagesdosis einzelner Medikamente heute weniger kostet als ein Kaugummi. Durch eine undifferenzierte Preisregulierung müssen Patientinnen und Patienten drastische Einschränkungen bei Versorgungssicherheit und -qualität in Kauf nehmen. Investitionen in Weiterentwicklungen von bewährten Produkten mit deutlichem Mehrwert für die Patientinnen und Patienten werden extrem erschwert und es kommt zu einer Ausdünnung des Angebots.

Die Preise dürfen nicht noch stärker gedrückt werden, so dass Medikamente der Grundversorgung in der Schweiz nicht mehr produziert oder vertrieben werden können. Zur Stärkung des Standortes und damit eine sichere und breit gefächerte Versorgung mit Medikamenten auf lange Sicht gewährleistet ist, muss der Wettbewerb im Sinne von mehr Anbietern und mehr Produkten gefördert werden – ein solcher Qualitätswettbewerb kommt letztendlich allen zugute. Nur mit einer geschickten Regulierung lässt sich die lückenlose Versorgung sicherstellen. Hier sind Politik und Verwaltung gefordert.

Pharmaunternehmen entscheiden sich zum Teil auch, bestimmte Medikamente nicht mehr herzustellen, weil es sich finanziell nicht mehr lohnt. Und füllt diese Lücke niemand, führt dies zu zusätzlichen Mängeln. Ist dieser Aspekt hinsichtlich den Medikamentenengpässen von Bedeutung?

Eine Tiefpreispolitik zwingt Unternehmen, ihre Produktionen ins Ausland zu verlagern. Anbieter werden aus dem Markt gedrängt. Die Folge – eine Monopolisierung auf wenige Produktionsstandorte. Eine undifferenzierte Preisregulierung, die dazu führt, dass Medikamente der Grundversorgung nicht mehr verfügbar sind, kommt Patientinnen und Patienten respektive das Gesundheitssystem teuer zu stehen.

Uns ist wichtig, dass das Gesundheitssystem nicht nur umfassend zugänglich, sondern auch bezahlbar bleibt. Es versteht sich aber von selbst, dass die Produktion und das Handling in der Schweiz teurer sind als im Ausland, was sich wiederum im Preis widerspiegelt. Daher braucht es eine ganzheitliche volkswirtschaftliche und nutzenorientierte Betrachtung der Therapiekosten, um auch in Zukunft ein Gesundheitssystem im Sinne der Patientinnen und Patienten aufrechterhalten zu können.

«In Bezug auf die Anzahl verkaufter Packungen liegt der patentabgelaufene Markt jetzt schon bei 75%. Bei rund 25 Prozent aller Packungen liegt der Preis aber bereits jetzt schon so tief, dass es sich nicht einmal mehr für Generikafirmen lohnt, Nachahmerprodukte zu lancieren.»

Sie haben die Verordnungsänderungen erwähnt. Zu Jahresbeginn sind verschiedene Massnahmen in Kraft getreten, die Generika und Biosimilars fördern sollen. Wie stellen Sie sich zu diesen Massnahmen?

In Bezug auf die Anzahl verkaufter Packungen liegt der patentabgelaufene Markt jetzt schon bei 75%. Bei rund 25 Prozent aller Packungen liegt der Preis aber bereits jetzt schon so tief, dass es sich nicht einmal mehr für Generikafirmen lohnt, Nachahmerprodukte zu lancieren. Somit können sich die Massnahmen sogar negativ auswirken. Der Bund hat es leider verpasst, eine Regulierungsfolgeabschätzung über die einzelnen Massnahmen durchzuführen – frei nach dem Motto: «try and error».

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