Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Ansteckende Inflation

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Ansteckende Inflation
Fredy Hasenmaile, Chefökonom von Raiffeisen Schweiz. (Bild: Raiffeisen)

Der Geist ist wieder in der Flasche – zumindest in der Schweiz. Zwar dürfte sich die Inflation hierzulande in den nächsten Quartalen im oberen Bereich des Zielbandes der Nationalbank zwischen 0% bis 2% bewegen, ein nachhaltiges Überschreiten der 2%-Schwelle ist aber kaum mehr zu erwarten. «Glückliche» Umstände, wie die geringere Energieabhängigkeit und der starke Franken, waren hilfreich.

von Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen

Während die Konsumenten in den USA und in Europa mit einer galoppierenden Inflation zurande kommen mussten, hatten wir es in der Schweiz nur mit einer «spazierenden» Inflation zu tun. Das ist ein entscheidender Unterschied und erleichtert die Bekämpfung der Inflation erheblich. Die Inflation reicht als ökonomisches Phänomen nämlich über die blosse Veränderung von Preisen hinaus und umfasst auch eine facettenreiche psychologische Dimension, die umso stärker zum Tragen kommt, je mehr sich die Inflation schon ausgebreitet hat.

Die meisten Ökonomen haben die Inflation nicht sehen kommen. Den Vogel abgeschossen hat der angesehene, in Hamburg tätige Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Thomas Straubhaar, der den Deutschen an Weihnachten 2020 die frohe Botschaft verkündete, die Inflation sei tot. 21 Monate später überschritt die Inflation in Deutschland die 10%-Schwelle. Er war nicht der Einzige, der falsch lag. Auch «The Economist», das britische Leitmedium vieler Ökonomen, sah es zur selben Zeit als unwahrscheinlich an, dass die Inflation zurückkehren werde. Auch die Spezialisten bei den Zentralbanken hatten nicht auf dem Radar, was sich anbahnte. Sie vertrauten zu stark ihren Modellen und hatten ihre Fühler zu wenig am tatsächlichen Geschehen.

Dort war zu beobachten, dass die Produzenten – gebeutelt von den coronabedingten Lieferengpässen – bereit waren, hohe Aufpreise für ihre Vorleistungsgüter zu bezahlen. Hauptsache, man wurde beliefert, der Preis war zweitrangig. Insofern waren die Lieferengpässe der Pandemie und die dadurch ausgelösten Angebotsschocks der Auslöser des Inflationsschubs. Dies musste sich früher oder später in den Konsumentenpreisen niederschlagen. Was sie alle in ihren Überlegungen zu wenig berücksichtigten, war der ansteckende Charakter der Inflation.

Ein zentraler psychologischer Aspekt der Inflation ist die sogenannte Inflationserwartung. Diese bezieht sich auf die Vorstellung der Menschen darüber, wie sich die Preise in der Zukunft entwickeln werden. Wenn die Bevölkerung erwartet, dass die Preise steigen werden, kann dies zu einem selbstverstärkenden Prozess führen. Die ökonomische Theorie erwähnt die Neigung der Verbraucher, ihre Ausgaben zu beschleunigen aus Furcht, später für dasselbe Gut mehr bezahlen zu müssen. Ich teile diese Ansicht nicht. Wer kauft schon einen Staubsauger ein Jahr früher für CHF 150 aus Furcht, dafür später, bei einer Teuerung von beispielsweise 5%, 158 Franken bezahlen zu müssen? Die Inflationserwartungen wirken anders.

Die psychologische Wirkung der Inflation erstreckt sich auch auf die Erwartungen von Unternehmen. Wenn Firmen davon ausgehen, dass die Kosten für Produktion und Ressourcen in der Zukunft steigen werden, neigen sie dazu, diese höheren Kosten bereits in ihren Preisen zu berücksichtigen. Dies führt zu einem Teufelskreis, da die erwartete Inflation eingepreist wird, selbst wenn die tatsächliche Inflationsrate noch nicht signifikant gestiegen ist. Dieses Phänomen ist als «Gierinflation» gebrandmarkt worden. Es entspricht aber einem normalen betriebswirtschaftlichen Vorsichtsreflex von Unternehmen, sich frühzeitig auf steigende Kosten vorzubereiten. Bei etlichen Firmen sind die Kosten anschliessend weniger stark gestiegen als vermutet, was sich in höheren Margen und der besagten Kritik niederschlug.

Ob Firmen ihre Preise erhöhen können, entscheiden in einer Marktwirtschaft letztlich nicht deren Kosten, sondern die Reaktion der Nachfrager. In normalen Zeiten ist eine solche Strategie kaum zielführend. Die Nachfrager bzw. Konsumenten identifizieren den Preisanheber rasch, weichen auf andere Hersteller aus und bestrafen so den Preistreiber. Weil im jüngsten Teuerungsschub aber viele Firmen gleichzeitig die Preise erhöhten, war ein Ausweichen nicht möglich. Entscheidend für den Erfolg dieser Strategie waren insofern die Inflationserwartungen der Bevölkerung. Im Wissen um steigende Preise wurden die Preiserhöhungen – zumindest anfänglich – zähneknirschend akzeptiert.

In dieser kollektiven psychologischen Reaktion der Bevölkerung zeigt sich der ansteckende Charakter der Inflation. Wenn Menschen sehen, dass die Preise für bestimmte Güter und Dienstleistungen steigen, neigen sie dazu, diese Preisentwicklung auf andere Bereiche der Wirtschaft zu übertragen. Dies kann zur Erwartung führen, dass die Inflation auf breiter Front ansteigen wird. Der soziale Austausch von Informationen und Meinungen verstärkt diesen Effekt zusätzlich. Wenn Freunde, Familie oder Kollegen über steigende Preise sprechen, kann dies dazu beitragen, dass sich die Inflationserwartungen weiter verbreiten. Trittbrettfahrende Unternehmen, die einfach die Gelegenheit zur Margenausweitung nutzen, kommen dann mit ihrer Strategie durch.

Geholfen hat auch der robuste Arbeitsmarkt. Im Unterschied zu früheren Inflationsschüben, die rasch mit steigender Arbeitslosigkeit einhergingen, haben die intakten Jobaussichten der Haushalte die Akzeptanz der Preisanstiege erhöht. Mit der Zeit sorgt der Wettbewerb dann dafür, dass die Margen wieder sinken, sofern es nicht zu Lohn-Preis-Spiralen und einer anhaltenden Teuerung kommt.

Um die psychologischen Faktoren der Inflation zu steuern, müssen sowohl Zentralbanken als auch Regierungen eine kluge und transparente Kommunikationspolitik verfolgen. Effektive Massnahmen zur Inflationsbekämpfung sollten nicht nur ökonomische Instrumente umfassen, sondern auch darauf abzielen, das Vertrauen der Bevölkerung in die Stabilität der Währung und die Wiederherstellung der Preisstabilität zu stärken. Eine klare und konsistente Kommunikation bezüglich der geldpolitischen Strategien und der Bemühungen zur Inflationskontrolle kann dazu beitragen, die psychologischen Auswirkungen einzudämmen und die Ansteckungsgefahr zu reduzieren. Entsprechend war das Agieren der Schweizerischen Nationalbank, die unmissverständlich und kompromisslos die Bekämpfung der Inflation als ihre Hauptaufgabe bezeichnete und sogar vor der EZB die Zinsen überraschend erhöhte, genau das richtige Rezept. Inflation muss entschieden, frühzeitig und kompromisslos bekämpft werden. Gerade weil Inflation letztlich in hohem Masse ein psychologisches Phänomen ist (und nicht nur ein monetäres).

In dieser Beziehung kommt auch der Glaubwürdigkeit der Zentralbanken ein hohes Gewicht zu. Christine Lagarde hat mit ihrer Strategie, die Geldpolitik zusätzlich auch noch für grüne Anliegen einzusetzen, sowie der Aufweichung des Inflationsziels der Glaubwürdigkeit der EZB geschadet. Durch die Verwässerung des Preisstabilitätsziels der EZB hat sie das Vertrauen der Bevölkerung in die Bekämpfung der Inflation unterminiert und damit indirekt auch die Inflationserwartungen beeinflusst.

Angebotsschocks sollten eigentlich nicht mit Zinserhöhungen bekämpft werden, haben viele Kritiker den Zentralbanken vorgeworfen. Das mag richtig sein, doch die Zinserhöhungen dienen den Zentralbanken als Instrument, um die Inflationserwartungen von Bevölkerung und Unternehmen zu steuern. Insgesamt verdeutlicht die Betrachtung der psychologischen Faktoren, dass die Inflation nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein sozialpsychologisches Phänomen ist. Die Wechselwirkungen zwischen den Erwartungen der Menschen, ihrem Verhalten und der Entwicklung der Inflation zeigen die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betrachtung dieses komplexen Wirtschaftsphänomens. Umgemünzt auf die heutige Situation heisst das: Die Zentralbanken sind gut beraten, die Zinsen nicht schon bei der erstbesten Möglichkeit zu senken, auch wenn das realwirtschaftlich vertretbar wäre. Wählen sie die zweitbeste oder gar eine noch spätere Möglichkeit, können sie damit die Inflationserwartungen «positiv» beeinflussen. (Raiffeisen/mc/pg)

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